Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes. Bettina Reiter
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Читать онлайн книгу Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes - Bettina Reiter страница 25
„Schau mal, da vorne ist Harolds Antiquitätenladen.“ Leni deutete auf ein kleines Geschäft nahe einer Seitenstraße.
„Wer ist Harold?“, fragte Jack verdutzt, der nach einem Bekleidungsgeschäft Ausschau hielt. Zwar hatte er heute Morgen seine und Lenis Koffer vom Hotel geholt, ständig konnte er jedoch nicht in seinen Anzügen herumlaufen. Außerdem benötigte er einige Toilettenartikel.
„Ich habe ihn gestern kennengelernt.“
„Bei welcher Gelegenheit? Mir hast du erzählt, dass du einen Spaziergang gemacht hast.“
„Das stimmt ja auch.“ Erneut blinzelte Leni. „Aber weil du mir erzählt hast, dass du früher Antiquitätenhändler werden wolltest, habe ich bei ihm reingeschaut.“
Je näher sie dem Geschäft kamen, desto dumpfer schlug Jacks Herz. Alte Möbel waren früher für ihn eine Kostbarkeit gewesen. Sie zu restaurieren eine Offenbarung. In grauer Vorzeit hatte er im Keller seines Elternhauses sogar eine Werkstatt gehabt und dort viele Möbel mühsam aufbereitet. Altes erhalten war nach wie vor seine Devise – zumindest was diesen Bereich betraf, der allerdings längst zur Vergangenheit gehörte.
„Wow, Harold hat wirklich tolle Sachen in der Auslage“, schwärmte Leni, die sich bisher nie dafür interessiert hatte. Unwillig blieb Jack neben ihr stehen. Sie spiegelten sich im Schaufenster wider. Über dem Geschäft hing eine antike grüne Reklametafel, die viele Roststellen aufwies: Harolds Schätze stand darauf. In der Tat verfügte der Inhaber über erlesene Kostbarkeiten, wie Jack feststellen musste. Ein alter barocker Stuhl mit rotem Samtbezug stand in der Auslage. Dahinter zeigte sich eine exquisite Chippendale-Kommode mit einer Schnitzerei, die einen Löwenkopf mit einer Krone zeigte. Das Möbelstück glänzte, als hätte man es gerade aufpoliert. Jack ergriff eine Begeisterung, wie er sie lange nicht mehr gespürt hatte, obwohl er am liebsten das Weite gesucht hätte!
Dennoch folgte er Leni wie in Trance ins Geschäft. Ein Glöckchen bimmelte. Sofort erfasste ihn ein Gefühl, als hätte er soeben die Schwelle in eine andere Zeit betreten. Kommoden mit goldenen Scharnieren, ein Biedermeier-Schreibtisch aus Nussbaum, ein reich verzierter wuchtiger Danziger-Barock-Schrank, gotische Truhen, zwei edle Sofas mit Brokatbezug, Kristall-Tischlampen im Jugendstil – Jack konnte sich kaum sattsehen.
„Habe ich dir zu viel versprochen?“, flüsterte Leni, als wäre auch sie in Gottesfurcht erstarrt. Er lächelte sie an, obwohl es ihn gleichzeitig innerlich zerriss. Seine Tochter hatte ja keine Ahnung …
Erneut ließ Jack seinen Blick über die Möbel schweifen, als er aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung wahrnahm. Er wandte den Kopf und entdeckte einen alten Mann, der den grünen Vorhang zurückschob und aus dem Nebenraum trat.
„Leni, wie schön, dass du mich wieder besuchst“, eröffnete der Fremde das Gespräch und deutete eine Verbeugung an, was Jacks Tochter grinsen ließ. Einer von der ganz alten Schule, wie es aussah. „Darf ich annehmen, dass das dein Vater ist?“ Er kam schleppend näher. Scheinbar hatte er Mühe mit dem Gehen.
„Stimmt. Ich bin Lenis Dad.“ Jack reichte ihm die Hand, die beherzt gedrückt wurde.
„Mein Name ist Harold Swappy“, stellte sich der Mann vor, nachdem sich ihre Hände voneinander gelöst hatten. „Ich führe dieses Geschäft schon seit beinahe fünfzig Jahren.“
„Tatsächlich?“ Das hatte Jacks Respekt verdient. „Dann läuft Ihr Geschäft gut?“
„Ich kann mich nicht beklagen. Einheimische und sogar Touristen kaufen gleichermaßen bei mir“, gab er bereitwillig Auskunft. „Manches verschiffe ich ins Ausland, da ich Kunden aus der ganzen Welt habe. Dank Internet ist das heutzutage ja möglich.“
„Restaurieren Sie selbst?“ Jack trat vor den Danziger-Schrank. Ein vergleichbares Stück war ihm nie zuvor untergekommen.
„In meiner Werkstatt hinten.“ Harold deutete zum grünen Vorhang. „Ich belasse die Stücke, wie sie sind und zaubere nur den alten Glanz wieder hervor. Altes erhalten ist meine Lebensphilosophie.“
Überrascht schaute Jack ihn an. „Da haben wir etwas gemeinsam. Mir läuft es kalt über den Rücken, dass manche Menschen solche Stücke mit billigem Lack überstreichen.“
Harold schüttelte sich. „Eine schreckliche Vorstellung.“
Der Mann war Jack sympathisch. Noch dazu passte er wie die Faust aufs Auge in das Geschäft, weil er wie ein Aristokrat wirkte. Seine Kleidung unterstrich diesen Eindruck. Graue Anzughose, ein weißes Hemd mit Rüschen an der Knopfleiste, eine nachtblaue Samtfliege und eine Samtjacke in der gleichen Farbe. Dazu passte die graumelierte Schiebermütze im Gatsby-Stil, die schräg auf seinem Kopf saß. Haare schien er keine zu haben. Dafür waren die schwarzen Augenbrauen umso buschiger. Die Nase wirkte energisch und der geschwungene dünne Oberlippenbart erinnerte Jack an seinen Helden aus Kindertagen: D’Artagnan, einer der vier Musketiere. Seltsam, seit Urzeiten hatte er nicht mehr daran gedacht.
„Wenn Sie Lust haben, könnten Sie mir beim Restaurieren helfen“, lud Harold ihn ein, als würden sie sich schon ewig kennen. „Ich muss eine ähnliche Kommode wie diese aufbereiten“, er deutete zum Danziger-Schrank, „aber in meinem Alter wird die Arbeit immer anstrengender. Hinzu kommt die Gicht, unter der ich leide. Von meiner Bandscheibe ganz abgesehen und auch meine Kraft lässt zu wünschen übrig.“
„Wir sind nur ein paar Tage hier“, erklärte Jack schroffer als gewollt und spürte den kalten Schweiß in seinem Rücken. Nie wieder würde er etwas restaurieren! „Und nun entschuldigen Sie uns.“ Er riss sich zusammen. Der alte Herr konnte nichts für seine Erinnerungen. „Leni und ich haben noch nicht gefrühstückt.“
„Dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Tag.“ Neuerlich verbeugte sich Harold und als er wie ein Soldat wieder halbwegs strammstand, lächelte er Leni an. „David hat übrigens gefragt, ob du später mit ihm zum Strand gehen möchtest.“ Im Nu röteten sich Lenis Wangen und ihre Augen glänzten verdächtig. Wer verdammt war David? „Er ist mein fünfzehnjähriger Enkel“, erklärte Harold, als ob er Jacks Zwiespalt gespürt hätte. „Die beiden sind sich gestern in meinem Geschäft begegnet.“
„Und haben sofort Freundschaft geschlossen?“, echauffierte sich Jack.
„So ist die Jugend eben heutzutage“, blieb Harold unbeeindruckt. „Sie nehmen alles mit, was das Leben hergibt. Hätten wir früher auch machen sollen, statt uns nach den Wünschen unserer Eltern zu richten. Also, Leni, soll ich David etwas ausrichten?“
„Nein, danke“, entgegnete Jacks Tochter, die ziemlich zappelig war, „ich schreibe ihn später über Facebook an. Er hat mir ja gestern eine Freundschaftsanfrage geschickt.“
„Oh, das ist nett“, freute sich Harold. „Chattest du auch so gerne wie ich?“
„Sie haben ein Facebook-Profil?“, wandte Jack ein.
„Sicher.“ Harold grinste. „Sonst könnte ich nirgends mitreden. Man muss mit der Zeit gehen, so sehr ich die Vergangenheit auch schätze.“
„Natürlich.“ Jack kam sich zum ersten Mal in seinem Leben etwas unterlegen vor. Harold war bestimmt über siebzig und wirkte lebendiger als er. Andererseits hatte