Stadtflucht. Stephan Anderson

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Stadtflucht - Stephan Anderson

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angemessen zu zeigen. Er nahm sich vor, seine körperliche Beschaffenheit dazu zu verwenden, den gedrückten und schockierten Nichtwissenden zu spielen. Nichtwissend traf vielleicht zu. Nichtsahnend nicht. Nur mit einem „Ja, alles angeboten. Danke“, konnte sich der Leidvolle eine knappe Antwort entlocken lassen.

      Während der Oberkommissar seine Personaldaten durchging und ihn über seine Rechte aufklärte, musste Aaron mit schwerer Atmung kämpfen. Seine Lunge blies sich nur mit größter Anstrengung auf. Dabei presste er seinen Daumenfingernagel tief in die Haut seiner anderen Hand, um noch armesseliger und schmerzerfüllter wirken zu können. Immer wieder konnte er sich auf die Belehrungen und Fragen, ob er seine Rechte und die Situation verstand und akzeptiere, nur ein Nicken und kurzes, gequältes Lächeln abringen. Es war, als ob er wieder in seine Teenager-Gefühlswelt abtauchte und in der Direktion seines alten Gymnasiums saß um gegenüber dem Schulleiter Rechenschaft über seine Verfehlungen abzulegen.

      Ihm rechts gegenüber saß der wiederum genervt-wirkende Ulman, der sich nun darauf versteifte in die Beobachterrolle zu schlüpfen und den Fragenden Rasch, mit dessen qualitativ-investigativer Achillesferse alleine lassend, genauso zu foltern wie den Befragten emotional mit hypnotischem Blick. Während der Kronzeuge alle Rechtsbelehrungen brav abnickte und immer wieder zu ihm blinzelte, beschatteten seine Augenbrauen seine tiefsitzenden Augen und sein faltiges Gesicht versteifte sich.

      „Nur keine Zeit verlieren, bald ist dieser Albtraum vorbei“, predigte sich Aaron immer wieder innerlich vor.

      „Erzählen Sie uns, was Sie heute erlebt haben“, bat ihn der holprig auftretende Oberkommissar, den Sachverhalt aus seiner Sicht zu erläutern.

      Mit dieser Frage kippte ein Schalter in Aarons Kopf. Die emotionale Leere in seinem Innersten war wie weggeblasen und ein Selbstschutzmechanismus klappte wie eine Maske vor sein Gesicht. Seine Gedanken waren klar, seine Atmung entspannte, der kalte Schauer verwandelte sich in einen warmen, seine Emotionen wurden kontrollierbarer.

      Nach Außen bleib das Wimmern, das Klagen und das Jammern. In seiner Seele kämpfte seine zu bersten drohende Membran, die seinen eingeschlossenen Hass und Abneigung gegen jeden, der seine Wohlfühlzone einengte und bedrohte, gegen seine Nächstenliebe und Empathie, abschirmte. Würde diese brechen, der durchdiffundierende Negativismus würde die guten Seiten in ihn sofort auffressen.

      Um nicht gleich in das Gespräch mit einer Deklaration als Menschenhasser einzusteigen, begann Aaron seine Aussage mit dem Betreten seiner Arbeitsstätte und nicht mit dem Verlassen seiner Wohnung. Kein Wort über arbeitslose Nachbarn und nervige Mitreisende in öffentlichen Verkehrsmitteln.

      Kapitel 7 Muttersöhnchen

      Bereits zum dritten Mal musste Aaron den Beginn seiner Geschichte nun schon wiederholen und kein Detail änderte sich gegenüber der vorangegangenen Beschreibung. Zum Glück aller drei Beteiligten füllte den grindigen kleinen Raum lediglich die wiedergebende Monotonie der geschilderten Ereignisse, denn die Zugabe eines stinkende Schwalls an Mundgeruch war, ob der stets verschlossenen Lippen Ulmans, nicht möglich.

      Zwar war er mit einer künstlichen Wolke aus Deo eingesprüht, aber mit Fortdauer des Gesprächs, setzte sich doch sein körpereigener Mief aus Schweiß, Zigaretten und ungewaschenen Haaren, die zur Kaschierung mit Pomade und Wachs zu einem Zopf gebändigt waren, durch.

      Nun musste er zur vierten Schilderung ausholen und seine Mär eines knapp vor dem mentalen Zusammenbruch stehenden, besorgten und mitfühlenden Zeugen und Arbeitskollegen bröckelte kein Sandkorn weit.

      „Ich betrat das Büro gegen acht Uhr und bin dann gleich auf die Toilette abgebogen. Als ich mich erleichterte klingelte jemand an der Tür. Das wunderte mich, weil ich diese offen vorgefunden hatte und auch offen ließ. Dann hörte ich meinen Arbeitskollegen Christoph Unterkofler wie er sie öffnete und noch sagte `was ist mit dir, bist du verrückt geworden`. Ich saß gerade auf der Toilette und las die Morgenzeitung, als ein lauter Krach, es muss ein Schuss gewesen sein, fiel.“

      „Sie waren also der, der das Klo verschissen hat?“, gab sich Ulman, aus seiner Passivrolle, amüsiert und begann allmählich an der Befragung teilzunehmen.

      Aaron wusste nicht, wie er auf diesen verbalen Einwurf des bis dato so schweigenden Kommissars reagieren sollte und sah grübelnd auf die abblätternde Wand des Raums, um seine Augen dann in des Ermittlers zu schwenken. Dessen ergötztes, überhebliches Schmunzeln verwandelte sich sofort wieder in einen ernsten hypnotischen Blick. Für den Schauspieler, der sich immer schwerer Tat, seine betrübte physische Verfassung darzustellen und gleichzeitig keine falschen Worte zu verwenden, war die Sachlage klar: ein Spiel aus guter Bulle – böser Bulle. Für gewöhnlich spielte er den selbstbewussten, aufrecht dasitzenden, eloquenten und seine Aussagen mit Händegestik untermauernden Kaufmann. Diese Situation war genau das Gegenteil. Natürlich wusste er aus unzähligen Seminaren und Trainings, wie man überzeugend und brustbreit auftrat, aber nun musste er penibel darauf achten genau das Kontrastverhalten wiederzugeben. Kein friedloses Kratzen an den Handrücken, keine abschweifenden Blicke und schon gar kein überzähliges Zwinkern. Seine Hände lagen in seinem Schoß, eingerollt und unterwürfig gab er seine Worte zu Protokoll. Im Prinzip gab er ja die Wahrheit zu Protokoll, aber lieber auch mit richtiger Körpeersprache untermauert. Lieber betrachtete er daher die verständnisvolle Erscheinung Raschs, die ihn mehr als Opfer, denn als Angeklagter betrachtete.

      Ulman versuchte ihn nur aus der Reserve zu locken, das war ihm klar. Auf keinerlei Provokation durfte er sich einlassen. Er, der betrübte, geschockte und traumatisierte Kronzeuge, der nichts am Klo gesehen hatte und am besten zu Hause aufgehoben wäre.

      „Ich versuchte so leise wie möglich zu sein. Nach dem Schuss war eine kurze Zeit der Stille. Der Holzboden knarrte. Ich hatte Angst der Mörder lauscht, weil er mich im Klo gehört hatte, die Toilettentüre ist ja gleich neben der Eingangstüre. Ein bisschen weiter den Flur runter. Dann hörte ich aber Schritte die mir verrieten, dass er weiter in Richtung Warteraum und Büroräume ging.“

      „Ich komme aus den Bergen. Aus Ihrem Akt sehe ich, dass Sie vom Land kommen. Was hat Sie in die große Stadt geführt?“, wollte Rasch in einer unbedarften Art, um für alle erkennbar das Vertrauen des Zeugen zu gewinnen, wissen.

      „Nun, nach dem Tod meiner Mutter, wollte ich nicht mehr den Vorurteilen der Leute ausgesetzt sein. Wie ein Tier im Zoo gafften sie mich an. Egal wo ich war. Es ist schwer in einer Kleinstadt mit zehntausend Einwohnern, wenn jeder über einen spricht. Außerdem hatte mich das Jobangebot meines jetzigen Arbeitgebers angesprochen. Acht Jahre ist das schon her.“

      „Wie genau verdient ihr Unternehmen Geld?“, rollte Rasch das ´L´ im letzten Wort über seine Zunge.

      „Wir handeln mit Rohstoffen. Also, wenn zum Beispiel eine Dürreperiode oder Missernte in einem Land droht, kaufen wir zuvor so viele Lebensmittel wie möglich dort auf, um dann so viel Profit wie möglich aus den verknappten und teurer gewordenen Getreide, Kaffee oder Soja zu erwirtschaften. Oder Wasser.“

      Der Oberkommissar musste das Gehörte erstmals setzen lassen und suchte auf seinem Tablett-PC nach dem Internetauftritt des Unternehmens. Mit einem einladendem Handzeichen bat er Aaron mit seinen Erzählungen fortzufahren.

      Dieser merkte sofort, dass seine eiskalte, emotionslose Beschreibung der Geschäftsgebarung seines Arbeitgebers, sein trübsinniges Auftreten nicht gerade beförderte. Schnell ruderte er zurück.

      „Schlimm, was die Firma macht. Aber ich muss auch Geld verdienen.“

      Druckvoll intensivierte er das schmerzende Pressen seines Daumennagels in die Haut seines Handrückens und versuchte diesen Akt der Selbstgeißelung

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