DER ABGRUND JENSEITS DES TODES. Eberhard Weidner

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DER ABGRUND JENSEITS DES TODES - Eberhard Weidner Anja Spangenberg

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bei ihm. Sie war so froh, dass sich endlich eine kompetente Person mit dem Verschwinden ihrer Tochter befasste, dass sie sogar in Tränen ausbrach. Erstaunt fragte sie sich, warum das so lange gedauert hatte und sie nicht schon viel früher zu weinen angefangen hatte. Doch dann wurde ihr klar, dass sie soeben die Verantwortung für die Suche nach ihrer Tochter abgegeben hatte. Jetzt, nachdem ihr diese Bürde von den Schultern genommen worden war, musste sich nicht länger stark sein, sondern konnte ihren angestauten Gefühlen endlich freien Lauf lassen.

      Der Polizist sprach beruhigend auf sie ein. Er bemühte sich, ihr die Angst zu nehmen, indem er ihr erklärte, dass die meisten Vermissten schon nach wenigen Tagen wieder wohlbehalten auftauchten. »Oft verlassen sie freiwillig ihren gewohnten Lebenskreis, um sich eine kurze Auszeit von ihren Alltagsproblemen und -sorgen zu nehmen. Und so, wie Sie mir den Zustand von Nadines Wohnung geschildert haben, sieht es für mich ganz danach aus, als sei das einer dieser Fälle. Gewiss wird sich Ihre Tochter schon bald, vielleicht sogar noch heute, bei Ihnen melden.«

      Allmählich beruhigte sich Mona, und ihre Tränen versiegten. Allerdings lag das nicht an den Worten des Mannes, sosehr er sich auch bemühte, ihr die Sorgen und Ängste zu nehmen. Doch das war nicht seine Schuld. Es war ihre eigene. Denn sie konnte noch immer nicht glauben, dass Nadine einfach verschwunden war, ohne jemandem Bescheid zu geben. So rücksichtslos und egoistisch war ihre Tochter nicht. So war sie von Mona und ihrem Mann auch nicht erzogen worden. Selbst wenn die MRT-Untersuchung etwas Besorgniserregendes ergeben hatte, wäre sie nicht einfach davongelaufen. Ganz abgesehen davon konnte man vor gesundheitlichen Problemen nicht weglaufen. Sie begleiteten einen überallhin. Nein, Mona war weiterhin davon überzeugt, dass mehr hinter Nadines Verschwinden steckte und dass ihr – Gott behüte! – etwas zugestoßen war.

      »Ich gebe Ihnen sofort Bescheid, sollte ich etwas über Nadines Schicksal oder Verbleib erfahren«, versprach der Polizeibeamte. »Im Gegenzug kontaktieren Sie mich bitte umgehend, sobald Nadine auftaucht oder sich meldet. Und rufen Sie mich bitte an, wenn Sie das Ergebnis der MRT-Untersuchung vorliegen haben.«

      Sie verabschiedeten sich voneinander. Danach war Mona wieder allein mit ihren Ängsten, während die Maschinerie der ersten Fahndungsmaßnahmen in Gang gesetzt wurde.

      Nachdem sie die Verantwortung für die Suche nach ihrer Tochter auf jemand anderen übertragen hatte, wusste Mona nicht, was sie mit sich anfangen sollte. Sie machte sich eine Tasse löslichen koffeinfreien Kaffee. Dann begann sie, das Haus zu putzen. So hatte sie wenigstens etwas Sinnvolles zu tun. Allerdings entfernte sie sich dabei nie weit vom Telefon. Sie wollte sofort am Apparat sein, falls Nadine, der Polizist oder Anne anrief.

      III

      Das Telefon klingelte erst am späten Vormittag des nächsten Tages. Mona eilte zum Gerät und nahm mit zitternder Hand ab. Aber es war keine der erhofften Personen, sondern nur der Neurologe am Apparat. Er erkundigte sich zunächst, ob Nadine noch immer verschwunden sei.

      »Ja«, sagte Mona mit zitternder Stimme.

      Sie hatte eine furchtbare Nacht hinter sich und kaum Schlaf gefunden. Ständig schreckte sie auf und glaubte, das Klingeln des Telefons oder das Geräusch des Schlüssels im Schloss hätte sie geweckt. Doch jedes Mal, wenn sie ihren Morgenmantel überzog und nach unten ging, um nachzusehen, stellte es sich als falscher Alarm heraus. Um fünf Uhr morgens gab sie auf und stand auf.

      Noch bevor sie in die Küche ging, um sich Kaffee und Frühstück zu bereiten, nahm sie den Hörer des Telefons ab und wählte Nadines Nummer. Nach dem sechsten Läuten nahm der Anrufbeantworter das Gespräch entgegen. Sie legte nicht gleich auf, sondern hörte sich Nadines aufgezeichnete Stimme an, die erklärte, dass sie momentan nicht ans Telefon kommen könne, und den Anrufer bat, eine kurze Nachricht zu hinterlassen. Erst als die Ansage vorüber war, legte Mona auf. Wozu hätte sie auch eine Nachricht hinterlassen sollen? Das hätte ihr nur noch mehr verdeutlicht, dass Nadine verschwunden war und niemand wusste, wo sie steckte. Und was hätte sie sagen sollen? Schatz! Ich bin’s, deine Mutter. Melde dich doch bitte umgehend, sobald du wieder zu Hause bist. Unter normalen Umständen hätte sie das sicherlich getan. Doch angesichts dessen, was sie befürchtete, wäre sie sich dabei lächerlich vorgekommen. Also wischte sie sich nur die Tränen aus den Augen und schlurfte mit kraftlosen Schritten in die Küche.

      Den ganzen Vormittag war sie ruhelos und konnte keine fünf Minuten am Stück stillsitzen. Ständig ging sie zum Telefon, nahm den Hörer ab und überzeugte sich davon, dass sie das Freizeichen hören konnte und der Apparat funktionierte. Als er schließlich klingelte, hatte sie die Hoffnung schon beinahe aufgegeben. Sie saß am Küchentisch und versuchte, ein Kreuzworträtsel zu lösen, was sie normalerweise gern und oft tat. Doch heute kam sie nicht einmal auf die einfachsten Begriffe. Sie fühlte sich wie belämmert. Als das Telefon läutete, ließ sie vor Schreck den Kugelschreiber fallen. Sie sprang auf die Füße, sodass der Küchenstuhl hinter ihr umkippte. Aber sie kümmerte sich nicht darum, sondern eilte, so schnell ihre Beine sie trugen, in den Flur. Sie hob in der Hoffnung ab, dass es sich um Nadine handelte. Auch die Polizei oder Anne wären ihr recht gewesen, solange sie gute Neuigkeiten brachten. Doch es war nur der Facharzt für Neurologie, mit dem sie gestern gesprochen hatte.

      Sie konzentrierte sich wieder verstärkt auf die Gegenwart und das Gespräch mit dem Arzt. Ihre Konzentrationsfähigkeit war aufgrund des Schlafmangels und ihrer Erschöpfung momentan nicht sehr ausgeprägt. Dennoch hatte sie keine Probleme, zu verstehen, was der Neurologe ihr erzählte.

      Demnach hatte er soeben die Ergebnisse der MRT-Untersuchung aus der radiologischen Praxis erhalten. Und die Ergebnisse waren in der Tat besorgniserregend.

      »Bei Nadine wurde eine Geschwulst im Gehirn festgestellt. Sie sitzt an einer schwer zugänglichen Stelle und ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht operabel. Allerdings besteht die Möglichkeit, eine Kombination aus Bestrahlung und Chemotherapie einzusetzen, um dem Tumor damit zu Leibe zu rücken. Gleichwohl sind auch hierbei die Chancen auf eine Heilung bei realistischer Einschätzung bedauerlicherweise nicht sehr hoch.«

      Mona schloss die Augen, die nicht nur wegen der Müdigkeit schmerzten. Sie hatte von Anfang an geahnt, dass ihrer Tochter Schlimmes widerfahren war. Und sobald die Nachbarin von dem Untersuchungstermin erzählt hatte, war ihr klar gewesen, dass dabei etwas Besorgniserregendes herausgekommen sein musste. Besorgniserregend genug, dass Nadine das Ergebnis sowohl vor ihrer Mutter als auch vor ihrer besten Freundin verheimlicht hatte.

      Der Arzt am anderen Ende der Leitung ergriff erneut das Wort, als Mona auf das, was er gesagt hatte, nicht reagierte. Er äußerte die Vermutung, Nadine sei möglicherweise wegen der niederschmetternden Diagnose verschwunden. »Nach Erhalt des Untersuchungsergebnisses habe ich umgehend den zuständigen Radiologen angerufen. Von ihm erfuhr ich, dass Nadine zutiefst schockiert auf die Diagnose reagiert und heftig geweint haben soll. Vermutlich stand sie unter einem schweren Schock, als sie die radiologische Praxis verließ.«

      Mona erwiderte auch darauf nichts. Sie fühlte sich momentan nicht in der Lage, etwas zu sagen. Nicht nachdem ihre größte Befürchtung durch das, was sie soeben erfahren hatte, immer deutlichere Gestalt annahm. Ihr größter Albtraum schien wahr geworden zu sein. Ihr einziges Kind, der letzte geliebte Mensch, der ihr nach dem Tod ihres Mannes geblieben war, war todkrank. Und niemand auf dieser Welt, nicht einmal sie, konnte ihm helfen.

      Der Arzt schien zu spüren, dass ihr nicht länger nach Reden zumute war. »Ich werde den Untersuchungsbericht an Ihren Hausarzt weiterleiten. Und ich hoffe sehr, dass Ihre Tochter schon bald wieder wohlbehalten auftaucht. Sie sollte sich anschließend auf jeden Fall umgehend mit mir in Verbindung setzen, damit wir einen Termin vereinbaren und die Therapie besprechen können.« Danach verabschiedete er sich.

      Nachdem er aufgelegt und die Verbindung beendet hatte, blieb Mona noch eine Weile regungslos im Flur stehen, den Hörer weiterhin am Ohr und den monotonen Wählton ignorierend.

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