Der Zorn der Hexe. Lars Burkart
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„Hi, Dad. Du liest ein Buch? Schön. Ist es gut? Ich hoffe, es ist kein lahmer Schinken?“ Sie plauderte drauflos wie ein Wasserfall. Ihr Vater konnte ihr kaum folgen. „Wie war dein Tag? Erzähl doch mal!“
„Ist alles mit dir in Ordnung?“, fragte der Vater, und in seiner Stimme schwang Sorge mit.
„Freilich. Was soll mit mir nicht in Ordnung sein?“
Er suchte offensichtlich nach Worten. Seine Augen und sein ernstes Gesicht ließen erkennen, dass er überlegte, was er sagen sollte. Er dachte nach, entschied sich für etwas, sann noch einmal nach und verwarf es schließlich wieder. Schließlich platzte er doch heraus mit der Sprache.
„Na ja, wegen deinem Pferd. Der Gaul. Du weißt schon.“
Von allen Möglichkeiten, die er hatte, musste er ausgerechnet die Holzhammermethode wählen. Gute Wahl, dachte Sabine sarkastisch. Jetzt, da es raus war, biss er sich auf die Lippen. Er hätte wirklich sanfter mit ihr umgehen können. Schließlich hatte sie ihren Gaul, wie er ihn nannte, ins Herz geschlossen. Sie entschloss sich, auch das zu ignorieren. Sie kannte ihren Vater gut genug, um zu wissen, dass er es nicht böse meinte. Es war nur seine Art, das Kind beim Namen zu nennen. Manche Menschen mochten sich daran stoßen, aber so war er eben: Immer mit dem Kopf durch die Wand und munter drauflos geschwatzt.
„Es … es tut weh“, war ihre knappe Antwort.
„Komm, setz dich zu mir. Du siehst müde aus, mein Kleines.“
Da war es schon wieder. Er hatte es tatsächlich schon wieder gesagt, obwohl er genau wusste, dass es sie auf die Palme brachte. Warum tut er das, überlegte Sabine. Allmählich kam ihr der Gedanke: Er tut es mit Bedacht. Aber nein, nein. Das tut er bestimmt nicht. Oder doch?
„Nein, nein. Lass gut sein. Es geht schon. Mir geht’s wirklich gut.“
„Sicher?“
„Ja, ganz sicher. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen.“
Er sah sie noch um einiges eindringlicher an, legte die Stirn in Falten und versenkte seinen Blick schließlich wieder in das Buch vor ihm. Ein unverständliches Blubbern kam aus seinem Mund. Aber Sabine verstand ihn.
„Na gut, wenn’s so ist, dann ist’s gut. Und wenn nicht, dann komm halt wieder vorbei.“
Eine Minute verharrten sie so. Sabine stand da wie eine Statue, und ihr Vater las. Er war so vertieft, dass er sie gar nicht mehr wahrnahm. Er glaubte, sie hätte das Zimmer verlassen.
Und so verging eine Minute.
Und dann noch eine.
Und schließlich noch eine.
Sabine räusperte sich, und erst jetzt bemerkte ihr Vater, dass sie nicht gegangen war.
„Ähm … ist sonst noch irgendwas?“
„Warum? Wie kommst du darauf?“
„Oh, ganz einfach. Weil du wie ein Ölgötze hier rumstehst und Maulaffen feil hältst! Das sieht dir gar nicht ähnlich. Also, heraus mit der Sprache: Was bedrückt dich?“
Sabine grinste. Hatte sie das wirklich getan? Davon hatte sie gar nichts mitgekriegt.
„Nun ja …“, begann sie, aber das war auch schon alles.
„Was du nicht sagst! Dann ist ja alles klar“, spottete ihr Vater. Kein feiner Zug von ihm, aber so war er nun mal. Das ist durch Prügel nicht mehr zu korrigieren, ging es ihr durch den Kopf, aber bei dem Gedanken, sie würde hinter ihrem alten Herrn her wetzen, einen Gürtel in der Hand, musste sie grinsen.
„Als ich eben auf dem Heimweg war, fiel mir ein, dass du mir mal was erzählen wolltest. Es hatte irgendwas mit unserer Familie zu tun. Ich glaube, es war zu der Zeit, als ich meine Fehlgeburt hatte. Ja, ich glaube, da war es“, bestätigte sie es sich selbst und fuhr dann fort: „Bis eben hatte ich es total vergessen. Wahrscheinlich hatte ich den Kopf mit anderen Dingen voll (ach was, sprach da ihre innere Stimme, du hast doch bloß den Tod deiner ungeborenen Tochter und den ihres Vaters betrauert! Im Großen und Ganzen also nichts Besonderes, wie? Hahahaha). Wie dem auch sei: Jedenfalls dachte ich mir, wenn es meine Familie betrifft, geht es auch mich was an. Das ergibt sich zwangsläufig, findest du nicht auch?“
Während sie sprach, wurde das Gesicht ihres Vaters immer leerer und ausdrucksloser, fast schon erschreckend. Im Gegensatz zu ihr konnte er sich an die Situation im Krankenzimmer gut erinnern. Viel zu gut. Wie so oft hatte sein Mund schneller gearbeitet als sein Gehirn; es war ihm einfach so rausgerutscht. Am liebsten hätte er es rückgängig gemacht. Er war damals in einer deprimierten Stimmung gewesen und nach all diesen Tragödien so sentimental und rührselig, dass er sein altes Schandmaul nicht im Zaum hatte halten können. Doch kaum, dass er ihr Zimmer verlassen hatte, hatte er sich einen alten Tölpel geschimpft. Vielleicht, dachte er damals, rieselt mir doch schon Kalk durch die Adern. Und als dann Sabine entlassen wurde, kam sie nicht mehr darauf zu sprechen; sie musste mit anderen Dingen fertigwerden. Es erleichterte ihn ungemein, doch gleichzeitig fürchtete er den Tag, an dem ihre Erinnerung zurückkehren würde. Allem Anschein nach war er jetzt gekommen. Das hast du nun davon, alter Narr.
„Es ist besser, wir lassen das.“
„Aber damals …“
„Damals hätte ich fast einen Fehler begangen – und das bereue ich. Ich weiß, dass ich nicht damit hätte anfangen dürfen. Aber die Situation … du weißt schon, was ich meine, war auch für mich zu viel. Auch ich war überfordert, und als Konsequenz davon ist mir das herausgerutscht. Das tut mir leid. Ich bin nichts als ein geschwätziger alter Narr.“
„Aber … aber …“
„Nichts aber. Glaub mir, es ist besser, wenn du diese Unterhaltung aus deinem Gedächtnis streichst. Tu einfach so, als hätte es sie nie gegeben. Und jetzt geh!“
Fast wäre Sabine tatsächlich gegangen; der grobe Ton erschreckte sie. So ungehobelt hatte sie ihn noch nie erlebt. Erst als sie bereits die Türklinke in der Hand hatte, besann sie sich, dass sie keine acht Jahre mehr war und ihr Vater ihr nichts mehr zu befehlen hatte. Sie wartete noch eine Sekunde, füllte ihre Lungen mit Luft und drehte sich langsam wieder um. In ihren Augen stand wilde Entschlossenheit (sie blitzten einem geradezu entgegen), und ihr Gesicht war hart wie Stein. Ihr alter Herr konnte davon freilich nichts sehen, denn seine Augen hatten im Laufe der Jahre nachgelassen.
„Hör zu, Daddy! Ich bin kein kleines Mädchen mehr!“
Der Klang ihrer Stimme überraschte sie beide, Sabine sogar noch mehr. Sie strotzte geradezu vor Entschlossenheit und Willensstärke. Und ihre Stimme, die kein bisschen zitterte oder schwächlich klang, bewirkte, dass sie sich ihrer Entscheidung sicher war. Jeder Zweifel wurde von dieser Stimme weggewischt wie ein Schmutzfleck von einer Fliese. Und da sie in ihrem Selbstvertrauen um einige Punkte nach oben geschnellt war, gab es jetzt kein Zurück mehr.
„Ich bin kein kleines Mädchen mehr“, begann sie von neuem.
„Ja, ich weiß. Aber …“
„Warum behandelst du mich dann so?“
„Aber Kindchen, das tue ich doch gar nicht. Das bildest du dir ein.“