Der Zorn der Hexe. Lars Burkart
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Er unterbrach die Stimme in seinem Inneren mitten im Wort. Nichtsdestotrotz konnte er es nicht unterbinden, über das eben Gehörte nachzudenken. Obwohl er schon oft bis zu diesem Punkt gekommen war, war es ihm immer wieder gelungen, zu schweigen. War das ein Fehler gewesen? Schließlich musste sie doch darauf vorbereitet sein. Oder etwa nicht?
Aber vielleicht passierte es ja gar nicht. Vielleicht übersprang es diese Generation und alles bleibt, wie es ist. Obwohl so viele schreckliche Dinge geschehen waren, so viel Schmerz erduldet worden war, schaffte es noch immer ein kleiner Teil seines Verstandes, an dieser mageren Hoffnung festzuhalten. Er pflichtete dieser Stimme sofort bei. Wer weiß, vielleicht hatte sie ja recht! Gehofft hätte er es allemal. Aber die Stimme seiner Vernunft war anderer Meinung. Du alter Narr, schimpfte sie, wie kannst du, nach allem was geschehen ist, tatsächlich noch an so was glauben? Es ernsthaft in Erwägung ziehen? Wie kann man nur so blöd sein? Es wird kommen, das steht fest! Die ersten giftigen Zeichen sind ja schon da. Denk doch nur an …
Ja, ja, schon gut, ich hab’s ja verstanden, schrie er der Stimme in Gedanken entgegen, noch bevor sie ihren Satz beenden konnte. Augenblicklich verstummte sie wie ein ungezogenes Kind. Er war verdammt froh, dass endlich wieder Ruhe in seinem Oberstübchen herrschte.
Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf seine Tochter und war überrascht, dass sie noch immer wie ein Tasmanischer Teufel durchs Zimmer tobte und Zeter und Mordio schrie.
„Du musst es mir sagen! Du musst! Du musst!“
Sie hatte also noch immer keine neue Platte aufgelegt. Eine seltsame Ruhe überkam ihn. Sie bemächtigte sich seiner wie eine unerwartete Tröstung und bewirkte, dass er sich endlich wieder etwas größer fühlte. Nicht mehr so winzig wie vorhin, als er gefürchtet hatte, in den Ritzen des Schaukelstuhles zu versinken. Je mehr ihn von dieser Ruhe durchströmte, umso größer kam er sich vor.
Sabine donnerte noch immer wie eine Diesellok, aber das war längst nicht mehr so einschüchternd. Natürlich hatte ihm seine Phantasie einen Streich gespielt. Selbstverständlich war er nicht geschrumpft, um keinen Millimeter. Aber es war ihm so vorgekommen. Es war höchst real gewesen, und es hatte ihn geängstigt. Gott sei Dank war es vorbei. Er kam sich nicht mehr wie ein Sandkorn vor, sondern wie ein Mann. Mit Augen, die seit Jahren nicht mehr so klar gewesen waren, sah er seine Tochter an. Sie war so schön, dass es ihm fast in den Augen schmerzte. Aber konnte man sich auf diese Empfindung verlassen? Findet nicht jeder Vater seine Tochter wunderschön? Ist sie nicht für ihn immer die Schönste unter der Sonne?
„Okay, ich sag es dir.“
„Was? Du machst was?“
Diesmal blieb ihr die Spucke weg. Sie hatte gebetet, hatte gefaucht wie eine Raubkatze, hatte gefleht, gebettelt und schließlich sogar mit dem Gedanken geliebäugelt, aus dem Haus zu gehen und nie wiederzukommen. Dann hätte der alte Trottel endlich gesehen, was er von seiner Sturheit hatte! Aber eigentlich hatte sie die Hoffnung schon aufgegeben. Das wäre durchaus keine Niederlage gewesen. Oh nein, sie hätte vielleicht die Schlacht verloren, aber der Krieg war noch nicht entschieden. Doch wie es jetzt aussah, brauchte sie vielleicht doch nicht mehr allzu lange zu warten.
„Ich werde es dir sagen“, wiederholte er, während sie ihn noch immer ungläubig anstarrte. „Es ist besser, du würdest dich setzen. Und vielleicht solltest du dir vorher einen Drink mixen. Einen starken. Du wirst es brauchen.“
Während er ihr das ans Herz legte, veränderte sich sein Gesicht. Es war nicht mehr das Gesicht eines Siebzigjährigen, sondern vielmehr eines Hundertsiebzigjährigen – freilich nur, wenn der Mensch so alt werden könnte. Es war von Altersflecken nur so übersäht, und die Falten in seiner Haut schienen die Größe des Grand Canyons zu haben. Trübsinnig starrten seine Augen auf einen Punkt irgendwo im Zimmer. Er wusste selbst nicht, warum er das tat. Er hätte genauso gut einen Staubfusel beobachten können, es hätte keinen Unterschied gemacht.
Sabine bereitete sich und ihrem Vater einen Drink zu. Sie ging davon aus, dass er auch einen haben wollte. Sein Gesichtsausdruck hatte jedenfalls danach ausgesehen. Einen extra starken. Als sie sich umdrehte und in das fremde, mittlerweile noch mehr gealterte Gesicht sah, kippte sie gleich noch etwas mehr Alkohol in die Gläser. Wer weiß, wozu es gut war! Sein Gesicht war nun nicht mehr das eines Hundertsiebzigjährigen, sondern die Fratze eines tausendjährigen giftigen Trolls. Es war in sich zusammengefallen und stumpf. Und es war vom Grauen gezeichnet.
Das war fast mehr, als sie ertragen konnte. Sabine leerte die zwei Gläser und kehrte zurück an die Bar, um zwei neue zu mixen. Um ein Haar hätte sie die auch wieder in sich hineingeschüttet. Sie musste sich zwingen, es nicht zu tun. Es gelang ihr, einigermaßen sicher zu laufen, obwohl ihre Beine sich anfühlten wie weichgekochte Spaghetti. Um nichts auf der Welt sollte ihr Vater sie so sehen. Der brachte es fertig und blies das Ganze wieder ab!
Als sie ihn schließlich erreichte und ihm den Drink in die Hand drücken wollte, sah sie mit Entsetzen (und der Anblick genügte, ihr einen eisigen Schauer über den Rücken zu jagen), dass nicht nur sein Gesicht erschreckend alt wirkte, sondern seine gesamte Erscheinung: Er machte einen Buckel wie eine Katze, seine Haut ähnelte uraltem Pergament, und seine Glieder zitterten ohne Unterlass. Sie biss erneut die Zähne zusammen, um sich nichts anmerken zu lassen.
Langsam ließ sie sich auf einem Sessel neben ihm nieder, nippte ein wenig an ihrem Drink und sah ihn ruhig an. Die beiden anderen begannen bereits zu wirken; sie sah jetzt dem, was kommen mochte, etwas ruhiger entgegen. In ihrem Bauch war es warm, und in ihrem Kopf drehte es sich.
Ihr alter Herr ließ die Fingergelenke knacken. Sie hasste es, wenn er das tat, aber heute registrierte sie es kaum. Viel zu sehr war sie über sein Äußeres bestürzt.
Ungeschickt fingerte er nach seinem Glas und hatte Mühe, es auch nur anzuheben. Es verging fast eine Minute, bis er es endlich an seinen Mund geführt hatte. Die Vorbereitung nahm zwar einige Zeit in Anspruch, aber das Trinken klappte wie von allein: Innerhalb von einer Sekunde war das Glas leer. Der Drink tat verdammt gut, aber auf einem Bein konnte man nicht stehen. Also erhob er sich schwerfällig, wobei seine Knochen knackten, und stolperte zur Hausbar. Und obwohl er mehr schlich als ging und Sabine hochsprang, als er sich erhob, erreichte sie die Bar erst nach ihm.
Keiner der beiden sagte ein Wort, als sie nebeneinander standen und sich einen weiteren Drink mixten. Und sie sprachen auch nicht, als sie wieder zu ihren Plätzen zurückgingen. Sabine wurde schmerzhaft an eine Beerdigung erinnert. Das gleiche Gefühl überkam sie auch jetzt; die Stimmung war genauso erdrückend und ernst. Aber es war nicht nur das – es war noch etwas anderes.
Sie saßen einander ein paar Minuten schweigend gegenüber, nippten an ihren Gläsern und wussten nicht recht, wie sie sich verhalten sollten. Natürlich ahnten beide, dass bald eine Veränderung eintreten würde. Doch nur ihr Vater wusste, was diese für Ausmaße haben würde …
Sabine rutschte auf ihrem Sessel herum. Sie konnte keine Sekunde still sitzen. Sie fieberte dem Moment entgegen, wo sie es endlich erfahren würde. Ganz anders ihr Vater. Er wäre am liebsten im Boden versunken. Nur weg von hier, weg, schrie es in seinem Hirn.
Schließlich war Sabine sich nicht mehr sicher, ob sie es wirklich noch wissen wollte. Der besorgte Gesichtsausdruck ihres Vaters und seine kummervoll zusammengesunkene Gestalt gaben ihr doch zu denken. Doch sie verbannte Zweifel und Unentschlossenheit in einen finsteren Kerker, verrammelte die Tür und warf den Schlüssel weg.
„Nun“, begann sie, „du hattest etwas vor!“