Der Zorn der Hexe. Lars Burkart
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„Keine Angst, du wirst irgendwann nachkommen, aber noch nicht jetzt. Jetzt ist es zu früh. Eines Tages werden wir uns wiedersehen. Und bis es soweit ist, muss ich mich von dir verabschieden.“
„Daddy, hör sofort auf damit! Du machst mir Angst! Was hat das alles zu bedeuten? Und was meinst du damit, wir sehen uns später?“
Sabine war jetzt einer Hysterie nahe. Irgendetwas, das in seinen Worten mitschwang, beunruhigte sie, es jagte ihr regelrecht Angstschauer ein. Obwohl ihnen nichts Direktes zu entnehmen war (vielleicht war gerade das das Schlimme) ahnte sie etwas Schreckliches.
Mit einem Mal riss er die Augen auf, als würde er nach irgendetwas oder irgendjemand im Zimmer sehen, und fasste sich an die Brust. Die Hand war verkrampft wie eine Klaue. Seine Mundwinkel flatterten wie die Flügel eines Kolibris, und dann sackte er in sich zusammen. Mit einem einzigen, mächtigen Satz war sie bei ihm. Sie war viel zu geschockt, um Angst zu haben.
Als sie auf dem kalten Boden hockte und ihren Vater in den Armen wiegte, dachte sie an nichts. Ihr Kopf war leer, sogar der Schock verflogen. Sie war leer, bestand eigentlich nur noch aus der menschlichen Hülle.
Seine Lippen erzitterten, und er sagte etwas, doch es war zu leise, als dass sie es hätte verstehen können. Und genau in diesem Moment tat er seinen letzten, schweren Atemzug.
Der Wind wehte böig, bauschte sich stellenweise bis zum Orkan. Der Himmel war wolkenverhangen, schwarz und düster. Es war mehr als wahrscheinlich, dass es heute noch richtig schütten würde. Doch was war schon Regen? Was war Wind? Nichts als Nebensächlichkeiten, nichts als Launen der Natur. Die kamen und gingen irgendwann auch wieder.
Es war jetzt fünfzehn Uhr dreißig, ein Sonnabend. Ein Tag, den Sabine nie wieder vergessen würde. Heute war der Tag, an dem sie ihren Vater, ihren letzten Verwandten, zu Grabe getragen hatte.
Genau jetzt, in diesem Moment, wurden seine sterblichen Überreste der Erde übergeben. Er lag in einem schneeweißen Eichensarg mit goldenen Griffen. Ihm hätte er gewiss gefallen. Sabine hatte auf Schnickschnack wie Kapelle, Trauermusik und lange Reden verzichtet. Ihr Vater war nie ein Freund solcher Dinge gewesen. Er hätte es sich nicht so gewünscht, und da er ja bedauerlicherweise hier die Hauptrolle spielte, wollte sie, dass es in seinem Sinne ablief.
Kaum jemand war hier. Sabine stand allein am Grab. Da sie die letzte lebende Verwandte des Verstorbenen war, war das auch kein Wunder. Außer einigen wenigen Freunden ihres Vaters, die sie aber nur vom Sehen kannte, war sie allein. Aber selbst wenn der Friedhof von Besuchern übergequollen wäre, wäre sie allein gewesen. Ihr Geist hatte sie sich von der Realität abgekapselt. Zu groß war der Schmerz. Sabine hatte sich in ein selbsterrichtetes Schneckenhaus zurückgezogen, eines, in dem noch alles beim Alten war. In dem ihr Daddy seine Tochter auf dem Schoß trug und sie und der Vater des Kindes wie auf einem Familienporträt daneben standen. Hier drinnen war alles so, wie es sein sollte, hier drinnen ließ es sich aushalten …
Als ihr die Beileidsbekundungen überbracht wurden, stand Sabine nur da wie eine leblose Hülle, schüttelte ohne Kraft die Hände derer, die erschienen waren. Sie zwang sich, sich mit einem Lächeln bei ihnen zu bedanken.
Später, als alle den Friedhof verlassen hatten und wieder daheim, in ihrem eigenen Leben waren, saß Sabine auf einer Bank und starrte in den wolkenverhangenen Himmel. Sie wusste, dass das Schmerzhafteste jetzt hinter ihr lag. Und sie hoffte, dass es jetzt endlich wieder aufwärts ginge. Es konnte nicht mehr schlimmer werden. Vor dem heutigen Tag hatte sie Angst gehabt. Sie hatte ihn gefürchtet, wie ein römischer Gladiator seinen Einsatz gegen die Löwen fürchtete.
Warum fühlte sie sich nicht besser? Jetzt, da es vorbei war? Sicher, ihr war klar, dass das nicht Schlag auf Schlag gehen würde. Falls sie das glaubte, erwartete sie zu viel. So schnell konnte die Wunde, die der Verlust ihres Vaters gerissen hatte, nicht heilen. Aber sie hatte dafür gebetet, wenn es schon nicht heilte, sollte es zumindest aufhören zu schmerzen. Oder der Schmerz sollte, wenn er schon nicht schwand, wenigstens schwächer und schwächer werden.
In all den Tagen nach seinem Tod hatte sie keine ruhige Minute gehabt. Es mussten Wege gegangen werden, die Beerdigung musste organisiert, Einladungen, wenn auch nur wenige, mussten verschickt werden. Sie hatte viel zu tun und keine Zeit nachzudenken. Nun aber kehrte langsam Ruhe ein, und jetzt wurde ihr die Veränderung in ihrem Leben klar. Und obwohl sie eigentlich längst versiegt sein müssten, liefen ihr Tränen die Wangen hinunter. Sie verlangte sich zu viel ab; das begriff sie jetzt. Ihre Trauer würde noch lange andauern. Sie würde irgendwann weniger werden, doch ganz verschwinden würde sie nie.
Schwerfällig erhob sie sich von der Bank, rückte das Kleid zurecht und lief langsamen Schrittes zum Ausgang. Am liebsten wäre sie zurückgerannt, zurück zum frischen Grab und hätte mit ihren Händen die Erde beiseitegeschafft. Sie wollte und konnte nicht glauben, dass ihr Vater nicht mehr sein sollte! Es war bestimmt nur ein Irrtum! Es konnte sich nur um einen Irrtum handeln! Bestimmt schlief er nur und hatte von alldem gar nichts mitbekommen! Obwohl es eine absurde Vorstellung war, klammerte sie sich an sie fest. Vielleicht war er auch ins Koma gefallen und konnte jeden Moment wieder erwachen? Was dann? Dann musste doch jemand da sein, um den Sarg zu öffnen! Man konnte ihn doch nicht dort drinnen lassen!
Fast wäre sie tatsächlich zurückgerannt. Doch sie konnte sich am Ende beherrschen. Vater war tot, und das war unabänderlich. Nichts und niemand konnte etwas dagegen tun. Es wurde Zeit, sich mit dem Schmerz zu befassen. Sie konnte ihn in Erinnerung behalten, denn so würde er in ihrem Herzen weiterleben.
Sie lief weiter, wobei ihre schwarzen Schuhe über den Kies knirschten (sie hatte sie extra hierfür gekauft). Und in der Sekunde, da sie das große eiserne Tor passierte, wusste sie, dass ein neues Leben begann. Sie wusste nur noch nicht, ob sie es lieben oder hassen würde.
Ein paar Meter die Straße hinunter parkte ihr Wagen. Schon von weitem entriegelte sie per Fernbedienung die Tür, riss sie auf und ließ sich in den Sitz fallen. Sie legte den Kopf nach hinten, versuchte die Beine auszustrecken, schloss die Augen und faltete die Hände im Schoß. Mit ihrem rechten Fuß befreite sie den linken aus dem Schuh, und als ihr das gelang, versuchte sie es auch beim anderen. Sie blieb lange so sitzen.
Irgendwann, als sie wieder einigermaßen klar denken konnte, startete sie den Wagen, fuhr aus der Parklücke, sah vorschriftsmäßig in den Rückspiegel, vergaß auch den toten Winkel nicht und ordnete sich in den fließenden Verkehr ein.
Sabine war nie eine rasante Autofahrerin gewesen; sie hatte es nicht besonders eilig, wenn sie einen Wagen lenkte. Sie hatte keine Angst, wie ihre Fahrweise oft falsch interpretiert wurde, sie wusste nur, dass ein Fahrzeug eine gefährliche Waffe sein konnte.
Sie schaltete das Radio ein, suchte einen Sender, der vielleicht ihre Stimmung heben konnte, fand aber keinen.
Langsam näherte sie sich ihrem Zuhause. Es erschien ihr fremd und trostlos. Viel zu groß, viel zu riesig für sie allein. All die Etagen, all die Zimmer, in denen sie als Kind herumgetollt war. Hier hatte sie ihr ganzes Leben verbracht – bis auf die paar Jahre, in denen sie studiert und im Studentenheim gewohnt hatte.
Das Studium war keine schlechte Zeit gewesen, es hatte ihr Spaß gemacht. Sie waren ein dufter Haufen gewesen, fünf Mädchen und drei Jungens. Und obwohl jeder von ihnen etwas anderes studierte, verstanden sie sich erstklassig. Wahrscheinlich gerade deshalb. So konnten sie sich wenigstens nicht die Laune verderben, wenn jemand ein Seminar in den Wind gesetzt hatte. Und dann waren da ja auch noch die wilden Partys. Wenn ihr Vater oder irgendein anderer der Eltern auch nur geahnt hätte, was da los gewesen war – Menschenskind, die hätten sie sofort nach Hause geholt, in die nächstbeste Entziehungskur gesteckt und erst dann wieder herausgeholt, wenn Gras über die Sache gewachsen war!