Der Zorn der Hexe. Lars Burkart

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Der Zorn der Hexe - Lars Burkart

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egal. Sie hatte ein Loch, einen Eingang, durch den sie gehen konnte, ein Grund zur Freude. Außerdem war ihr Körper so angespannt, hatte so viel Adrenalin produziert, dass sie von Schmerzen erst einmal noch gar nichts mitbekam.

      Zu ihren Füßen lagen Gipsbrocken und Stücke der Holzpaneele, mal größere, mal kleinere. Und eine ganze Menge Staub hing in der Luft. Die Axt rutschte ihr aus der Hand, polterte zu Boden. Jetzt, da sie ihr Gewicht nicht mehr spürte, merkte sie erst, wie schwer sie gewesen war. Es grenzte an ein Wunder, dass sie das Ding überhaupt hatte heben können, von den weit ausholenden Schlägen ganz zu schweigen. Und doch hatte sie es geschafft. Sie war stolz auf ihr Werk und betrachtete es wie eine Malerin ihr neuestes Gemälde.

      Sie wartete noch etwas, bis der Staub sich ein wenig gelegt hatte (sie wollte schließlich sehen, wohin sie lief und sich nicht blind vorantasten), dann betrat sie den geheimen Raum.

      Beim ersten Besuch war er ihr größer vorgekommen, viel größer. Aber vielleicht lag das daran, dass sich in letzter Zeit so viel verändert hatte – und an dem, was sich in diesem Raum zugetragen hatte. Doch daran wollte sie jetzt nicht denken. Sie musste einen klaren Kopf behalten und … doch das war leichter getan als gesagt. Immer und immer wieder sah sie ihren Vater in ihren Armen sterben.

      Unter ihren Füßen knackten Holzsplitter, aber sonst war es ruhig – so ruhig, dass sie das Blut durch ihre Adern rauschen hören konnte. Die Spannung in der Luft war schier greifbar; Sabine war gespannt, was sie hier unten finden würde.

      Sie lief noch ein Stück tiefer in den Raum hinein, und ihre Schuhe klapperten auf den Fliesen. Als sie die Mitte erreicht hatte, blieb sie stehen und sah sich um. Erst jetzt bemerkte sie, dass das Licht die ganze Zeit über gebrannt hatte. Was mag das an Strom gekostet haben, dachte sie sinnlos.

      Hier drinnen sah es aus wie in einer Bibliothek: Es wimmelte regelrecht von Akten, Papierstücken und Dokumenten. An den Wänden standen hohe Regale, die bis zu der Decke reichten. Links, rechts, vor ihr und hinter ihr nur Regale, nichts als Regale. Es musste eine unvorstellbare Arbeit gewesen sein, das alles zusammenzutragen. Wer hatte diese Geduld gehabt? Wer konnte so viel Zeit haben? Und was hatte er sich davon erhofft? Das lag noch im Dunkeln. Aber sie hoffte, hier unten die Antworten zu finden.

      Die Luft war muffig und abgestanden. Das war etwas, das sie beim ersten Mal nicht bemerkt hatte. Sie war irgendwie feucht und roch uralt, als öffne man in einer ägyptischen Pyramide die Grabkammer. Kein Eau de Toilette, das man zu einem festlichen Anlass aufträgt. Eher ein Duft, bei dem man alles stehen und liegen lassen will, um schnellstmöglich wieder an die frische Luft zu kommen ... Doch Sabine widerstand dem Drang und blieb. Wegzulaufen hätte nichts genutzt. So hätte sie nie Antworten erhalten. Und war sie das ihrem Vater nicht schuldig?

      Sie blieb also, und je länger sie hier unten war, umso weniger schien sie es zu bemerken.

      Sabine drehte sich einmal um ihre Achse und bestaunte die Akten und Papierrollen. Sie lagen hier nun schon seit wer weiß wie vielen Jahren und warteten darauf, von ihr gelesen zu werden. Was sich wohl für Wissen in ihnen verbarg? So viele Jahrhunderte, in denen die Geschichte ihrer Familie aufgezeichnet worden war. Ein unvorstellbarer Schatz. Aber auch ein dunkles Kapitel bergend, wie ihr Vater ihr anvertraut hatte. Und dieses dunkle Kapitel galt es nun zu finden …

      Sie lief auf den Schreibtisch zu und knipste die Arbeitslampe an. Sie bestrahlte lose Blätter auf dem Tisch. Einen Moment überlegte sie, sie zu studieren, entschied sich dann aber dagegen. Scheute sie, was sie erfahren konnte? Vielleicht war sie auch nur nicht konzentriert genug. Sie wusste es nicht. Sie war noch immer viel zu verblüfft, musste das alles erst einmal begreifen. Aber genau das war hier unten nur schwer möglich. Hier war ihr Vater gestorben.

      Sabine begriff: Hier würde sie nichts erreichen. Hier führte jeder Weg wieder nur zu ihrem Vater. Und genau das wollte sie nicht. Schließlich schmerzte es so schon genug.

      Nein, es gab keine Alternative. Sie musste von hier verschwinden. Wenn sie etwas erreichen wollte, musste sie von hier weg. Aber wenn sie unverrichteter Dinge die Beine in die Hand nahm, erreichte sie nichts. Dann würde sie ihre Neugier nie befriedigen können. Und konnte ihrem Vater auch nicht jenen letzten Gefallen tun, denn das hätte er sich, im Nachhinein betrachtet, gewiss gewünscht. Natürlich nur, wenn er ihr mit seiner haarsträubenden Geschichte keinen Bären aufgebunden hatte. Falls nicht, tat sie gut daran, sich nicht zu lange hier aufzuhalten. Am besten würde es sein, den Raum zu verlassen und nie wieder hierher zu kommen – zumindest nicht in absehbarer Zeit. Und da war sie wieder bei dem Gedanken, den sie in letzter Zeit mehrmals gedacht hatte: das Haus verkaufen, irgendwo anders ein neues Leben anfangen.

      Zu Lebzeiten ihres Vaters wäre ihr das nie in den Sinn gekommen. Doch diese Zeiten waren vorbei. Ihr Vater lebte nicht mehr. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Ihr seliger Herr Vater hätte bestimmt nichts dagegen gehabt, wenn sie …

      Schluss! Aus! Vorbei! Ich muss hier weg. Viel zu spät hatte sie gemerkt, dass sie wieder bei ihrem Vater gelandet war. Es war wie verhext. Sie musste hier raus, in die obere Etage, wo es warmes, angenehmes Tageslicht gab, wo es nicht so unheimlich war und wo sie auch nicht diese Erinnerungen heimsuchten.

      Als sie eben daran gedacht hatte, dass es hier verhext zuging, waren ihr augenblicklich die Worte ihres Vaters eingefallen: „Die alte Hexe hat unserer Familie nichts als Trauer und Schmerz gebracht.“ Ob das genau seine Worte gewesen waren, wusste sie nicht. Dazu war es schon zu lange her. (Lange? Lange? Was verstehst du unter lange? Die paar Tage?)

      Sabine schnappte sich einen Stapel Papiere, so viel, wie sie tragen konnte und machte augenblicklich kehrt. Noch nie war ihr Verlangen, von irgendwo zu verschwinden, so stark gewesen wie in diesem Moment. Ja, es war richtig. Sie musste von hier weg. Und als sie die Kellertür hinter sich schloss, fühlte sie sich gleich besser.

      3. Kapitel

       3. Kapitel

      Seit drei Tagen war Sabine nicht mehr im Keller gewesen. Und in dieser Zeit hatte sie so wenig wie möglich an dort unten gedacht. Sie hatte noch nicht einmal einen Blick in die Schriftstücke geworfen. Sie hatte sie nur hinaufgebracht und dann irgendwo achtlos fallen gelassen. Wo sie wahrscheinlich auch heute noch lagen.

      Die letzten drei Tage waren alles andere als produktiv gewesen. Und das passte ihr auch ziemlich gut so. Hatte sie allen Ernstes geglaubt, sie wolle dieses dunkle Geheimnis ergründen? Anfangs ja, aber nachdem sie aus dem Keller geflüchtet war, kamen ihr nicht nur Zweifel, sie fühlte sich von dem Schock, den die Begegnung mit dem düsteren Raum und den unzähligen Dokumenten ausgelöst hatte, ernüchtert. Jetzt war sie nicht mehr so begeistert. Vielmehr hatte nacktes Entsetzen sie gepackt, Grauen. Und das war selbst für ihre neugierige Ader zu viel.

      Doch das war vor drei Tagen gewesen. Seitdem hatte sich manches verändert. Nun war sie wieder interessierter. Vielleicht lag es daran, dass sie Abstand gewonnen hatte. Vielleicht aber auch nur daran, dass ihre Neugier langsam doch wieder die Oberhand gewann. Aus welchen Gründen auch immer: Als sie heute Morgen die Augen aufgeschlagen hatte, wusste sie mit einem Mal, dass sie etwas unternehmen musste, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie musste endlich wieder die Fäden in den Händen halten. Das war sie ihrem Vater schuldig. Er hatte ihr nicht beigebracht, die Hände in den Schoß zu legen, passiv zu leiden. Nein, hatte er nicht. Er hatte ihr einen gewissen Tatendrang eingebläut. Und eben dieser Tatendrang verlangte von ihr, aktiv zu werden. Ihr Vater hätte sich in seinem frischen Grab umgedreht, wenn er gewusst hätte, wie faul sie hier auf ihrem Hosenboden saß!

      Sie griff sich also die alten Dokumente, die kreuz und quer im Haus herumlagen und ging mit ihnen in die Küche, in deren Mitte ein großer Arbeitsbereich war. Das war praktisch, denn die Küche

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