Der Zorn der Hexe. Lars Burkart
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Читать онлайн книгу Der Zorn der Hexe - Lars Burkart страница 18
Nun hatte sie endgültig genug. Sie wollte nichts mehr davon wissen. Es reichte. Das Maß war voll. Sabine warf das Blatt wie einen Frisbee von sich. Natürlich flog es nicht so gut wie eine Scheibe, aber es reichte, um es wegzukriegen. Und das wollte sie. Sie wollte es weghaben. Als wäre es ein bösartiges Geschwür. Und in gewisser Weise war es das ja auch.
Sie sah dem Blatt beim Davonsegeln zu, wie es sich so um seine eigene Achse drehte und sich mal hierhin und mal dorthin bog, als könne es keiner Fliege etwas zu Leide tun. Eigentlich konnte es das ja auch nicht, doch sein Inhalt hatte es in sich. Er war das, was sie fürchtete. Früher hatte sie einmal geglaubt, es gäbe nichts, wovor sie Angst haben musste. Doch diesbezüglich hatte sich ihre Meinung geändert. Sie wusste jetzt, dass es sehr viel gab, viel zu viel, um genau zu sein, wovor sie Angst haben musste. Und sie hatte Angst. Mehr Angst, als sie je gedacht hatte ausstehen zu müssen.
Oh ja, ihr Vater hatte recht damit behalten, wenn er gemeint hatte, sie würde dieses Wissen verfluchen. Jetzt, im Nachhinein, stimmte sie ihm zu. Doch nun war es zu spät. Es ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Wenn sie darüber nachdachte, wusste sie jedoch, dass Unwissenheit sie nicht geschützt hätte. Also, wozu sich noch darüber den Kopf zerbrechen? Weil es so einfach war, ihrem Vater die Schuld in die Schuhe zu schieben. Freilich konnte er nichts für den Fluch. Was das anging, war er so schuldig wie sie. Nein, sie machte ihn dafür verantwortlich, dass er ihr halbwegs geordnetes Leben durcheinandergewirbelt hatte. Konnte sie das denn überhaupt? Genauso konnte sie einen Mann dafür verantwortlich machen, dass sie nachts seinetwegen kein Auge zubekam, dass sie weiche Knie bekam, wenn sie ihn sah, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte wegen ihm. War das nicht genau das Gleiche? Einerseits ja, anderseits aber auch wiederum nicht …
Verdammt, Sabine, reiß dich zusammen! Es bringt nichts, einen Schuldigen für das Theater hier zu suchen! Die einzige, die wirklich Schuld hat, ist schon seit Jahrhunderten tot. Also lass deinen Vater endlich ruhen. Er hat bestimmt mehr für dich getan, als ihm möglich war. Er hat dir diese Sammlung hinterlassen, arbeite also damit! Mach sie dir zunutze!
„Was soll das denn nun wieder? Wie soll mir das denn bitteschön nutzen? Und, was noch viel wichtiger ist: Warum sollte ich es tun?“
Willst du denn gar nichts gegen diesen schrecklichen Fluch tun? Willst du, dass es Generation um Generation immer so weitergeht? Willst du …?
„Was? Was hast du eben gesagt?“
Da war es wieder, dieses seltsame Gefühl. Sie hatte es schon vor ein paar Minuten gespürt; nur war es da nicht halb so stark gewesen. Vielleicht konnte sie ihm jetzt auf den Grund gehen. Vielleicht würde sie nun endlich erfahren, was es ihr sagen wollte. Es war auf jeden Fall etwas Wichtiges; sie hatte nämlich schon die ganze Zeit ein Gefühl im Bauch, als hätte ihr jemand mit voller Wucht in den Magen geboxt.
Willst du wirklich, dass es bis zum Ende aller Tage so weitergeht?
Autsch, jetzt tat es richtig weh, als würden ihre Magenwände mit einem Presslufthammer bearbeitet.
Na schön, na schön, ich weiß, dass du mir was sagen willst! Schieß los, ich bin bereit! Beende aber bitte diese Schmerzen! Das ist ja nicht auszuhalten!
In Gedanken betete sie diesen Text herunter und hoffte inständig, dass die Schmerzen nachließen. Sie richtete dieses Flehen an sich selbst, denn sie wusste, dass nur sie selbst es beenden konnte. Und enden würde es nur dann, wenn sie endlich den Grund für diesen Schmerz erfuhr. Ihr blieb also gar nichts anderes übrig, als ihre grauen Zellen anzustrengen.
Na dann, wollen doch mal sehen, wie wir dem Ganzen auf den Grund gehen können.
Was, meine Beste, gab dir den Anstoß?
Hm, mal überlegen … Meine weibliche Intuition faselte etwas davon, dass sie etwas gegen den Fluch unternehmen wolle. Stimmt, das war es! Aber da war noch was … Etwas viel Wichtigeres. Nur was? Ah, jetzt hab ich’s!
Ja? Was denn?
Sie fragte, ob es noch Generation um Generation so weitergehen soll.
Na und?
Begreifst du denn nicht?
Nicht wirklich.
Doch da begriff sie es. Sie begriff plötzlich alles. Und es war so einfach. Es war wirklich so einfach.
Die ganze Sache mit dem Fluch machte nur dann einen Sinn, wenn sie ihn weiterführen würde. Nicht wahr? Ist doch so, oder etwa nicht? Und genau das war das Gute daran. Wenn sie nämlich so an sich heruntersah und sich ihre Vergangenheit zu Gemüte führte, musste sie zugeben, dass es keineswegs so aussah, als würde sie ihrerseits für Nachwuchs sorgen. Und das war nun wirklich sehr interessant. Denn das hieß ja, das …
Stop! Stop! Stop! Nur keine voreiligen Schlüsse!
Okay, okay. Einverstanden.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Und war das ein Wunder? Eben noch hörte sie von dieser schrecklichen Neuigkeit, und einen Wimpernschlag später schien es sich schon wieder in Wohlgefallen aufzulösen. Schließlich hatte sie kein Kind. Sie war nicht Mutter. Sie war einmal kurz davor gewesen, die Freuden der Mutterschaft zu genießen, doch sie hatte es bei einer Fehlgeburt verloren. Und dieser klitzekleine Punkt ließ das Ganze in einem völlig anderen Licht erscheinen. Wenn sie nämlich keine Mutter war (und das war sie zweifelsfrei nicht) konnte der Fluch auch nicht auf die nächste Generation überspringen.
Doch da wurde ihre Freude gedämpft. Hatte ihr Vater nicht behauptet, dass es schon vorgekommen sei, dass in ihrer Familie eine Frau ohne den dazugehörigen Mann schwanger geworden war? Ja, hatte er. Allerdings war das Kind nie geboren wurden. Es verbrannte mit der werdenden Mutter auf dem Scheiterhaufen.
Doch heutzutage wurden nicht mehr allzu viele Frauen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Und außerdem war dieser Aspekt auch irrelevant; ein Kind dieser Frau hatte die Familie ja schon vor längerer Zeit verlassen, damit sie fortbestehen konnte. Also war diese Schwangerschaft nichts als ein Trick dieser Hexe gewesen, damit die andere Hexe, die sich deine Vorfahrin schimpft, ebenfalls auf dem Scheiterhaufen grillen konnte. So wie sie das selbst ja auch gemusst hatte …
Wow, recht kompliziert das alles, aber Sabine begriff dennoch jedes Wort. So wie sich das anhörte, würde es mit ihr aufhören. Sie hatte sich zwar Kinder gewünscht, aber angesichts dieser Tatsachen konnte sie darauf verzichten. Sie ließ ihren Familiennamen lieber enden, als dass dieses Leid sich seinen Weg durch die Zukunft bahnen konnte. Es lag in ihrer Macht, es zu beenden. Und das würde sie tun, bei allen Göttern. Amen.
Doch schemenhaft und verschwommen erschien in ihren Gedankengängen ein anderer Satz. Er lautete: Glaubst du wirklich, dass es so einfach ist? Und gleich im Anschluss ein weiterer: Wenn es das wäre, warum bist du dann die erste, die darauf gekommen ist? Glaubst du wirklich, die anderen waren alle Dorftrottel?
Der Einwand war berechtigt. So viele Generationen vor ihr. Das müssten ja dann alles ausgemachte Idioten gewesen sein. Oder wie ließ es sich sonst erklären, dass ausgerechnet sie diejenige sein sollte, die eine Lösung des Problems parat hatte? Nein, an der Sache musste einfach mehr dran sein … Aber wieso? Sie hatte die Lösung gefunden, und etwas anderes gab es nicht. Eigentlich war es ganz einfach: Wenn sie Zeit ihres Lebens kein Kind in die Welt setzte, müsste der Fluch mit ihr enden. So einfach war es, nicht mehr und nicht weniger. Beruhigend.
Am Anfang hatte sie noch mit dem Gedanken gespielt, sich das Leben zu nehmen. Sie hatte so nicht weitermachen