Der Zorn der Hexe. Lars Burkart
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Die erste Aufzeichnung war datiert mit 1540, es war aber anzunehmen, dass andere noch um einiges weiter zurückreichten. Und da Sabine sich einfach irgendetwas gegriffen hatte, ging es querbeet durch die Jahrhunderte, ohne irgendeine chronologische Reihenfolge. Aber das war egal. Es war auch so schon erschreckend genug.
Hier war die Rede von einer Familie, der Mann und die Frau so um die dreißig, was für damalige Verhältnisse wohl schon ziemlich alt gewesen sein musste. Sie hatten sechs Kinder, zwei Mädchen und vier Jungen. Ihre Hütte brannte eines Nachts bis auf die Grundmauern nieder. Überlebt hatte es niemand; sie wurden alle im Schlaf vom Feuer überrascht.
Das war alles. Mehr stand dazu nicht. Sabine wusste jedoch, dass diese Familie zwar ausgelöscht worden war, dass aber dieser Mann oder diese Frau eine Schwester oder einen Bruder gehabt hatten, der den Familiennamen weitertragen konnte. Schließlich endete hier nicht der Stammbaum, sondern nur ein Zweig. Und das war etwas völlig anderes. Schließlich hatte die Hexe ja gesagt, sie verfluche jeden. Allerdings war klar, dass viele erst dann ein Opfer ihres Fluches werden konnten, wenn sie brav Nachkommen gezeugt hatten. Denn was hätte die Hexe sonst für einen Spaß gehabt, wenn sie den ganzen Stammbaum gefällt hätte? Nein, sie hatte es anders angestellt: Sie hatte stets nur einen Zweig abgebrochen, eine Nebenlinie ausgelöscht. So war sicher, dass die Familie fortbestand. Und genau das lag in ihrem Interesse. Sie wollte, dass die Enkel und Urenkel dieser Frau verflucht wurden, dass man Jahrhunderte später noch davon sprach und vor ihr erzitterte. Und das konnte sie nur erreichen, wenn sie immer nur kleine Zweig abbrach, nie jedoch den Stamm fällte.
Sabine musste sich dieses Blatt wohl schon an die hundert Mal durchgelesen haben, aber egal wie oft sie es tat, es war noch immer beängstigend. Endlich legte sie es beiseite, etwa so, wie man etwas Ekelhaftes, Abstoßendes beiseitelegt: Sie griff es nur mit den Fingerspitzen und schob es ein Stück weg. Sie wusste, dass sie es in spätestens zwanzig Minuten wieder in ihren Händen halten würde. Weil sie es dann wieder nicht glauben konnte und sich überzeugen musste. Aber momentan schob sie es weg. Und griff sich das nächste Blatt. Es war kleiner, enger beschrieben und obendrein mit Fettspritzern benetzt. Als hätte ein Student es beim Donut essen geschrieben – vielleicht waren es aber auch nur Pommes gewesen. Aber egal, wie es aussah: Die Schrift war noch lesbar. Und nur das zählte. Auch wenn sie es nach wie vor nicht lesen wollte.
Diesmal war von einer Frau die Rede. Gleich nach Erreichen ihres dreißigsten Lebensjahres fiel sie einer seltsamen Krankheit zu Opfer. Es begann damit, dass ihr rechter Fuß schwarz wurde, einfach so. Er entzündete sich, begann zu riechen und fiel schließlich ab. Aber damit noch nicht genug: Die Entzündung befiel auch ihr gesamtes rechtes Bein, mit dem gleichen schrecklichen Ergebnis. Und dann starb sie. Und das war zweifellos eine Erlösung.
Angewidert schüttelte Sabine den Kopf. Die Vorstellung, bei lebendigem Leibe langsam zu zerfallen … es war einfach zu grausam, um es sich vorstellen zu können. Was hatte diese arme Frau leiden müssen!
Aber damit war es noch nicht genug. Hier stand noch mehr.
„Verdammt, verdammt, verdammt, auf was habe ich mich da nur eingelassen?“
Sie fragte sich schon jetzt, was noch alles auf sie zukommen mochte – dabei war noch nicht einmal ein Bruchteil des Verhängnisses enthüllt.
Auf dem nächsten Blatt war von einer Frau die Rede, die ihre acht Jungen im Dreißigjährigen Krieg verlor, nur ihr jüngstes Kind, eine Tochter, blieb verschont. Ob ihr dieses Glück wohl auch hold geblieben wäre, wenn es ein Junge gewesen wäre?
Diesmal zerknüllte Sabine das Papier in ihrer Hand. Aber sie wusste schon jetzt, dass es vergebliche Mühe war: In spätestens einer Stunde würde sie genau dieses Blatt wieder in den Händen halten und ebenso fassungslos die paar Zeilen lesen – so wie sie es jetzt getan hatte und schon einige Male vorher. Sie war regelrecht in einem Teufelskreis gefangen, wie sie da ohne Unterlass Schriftstücke durchkaute und sich, wenn sie das Letzte durchgelesen hatte, wieder das erste vornahm. Und es dann genauso fassungslos verschlang wie vorher auch schon und das nächste Mal auch …
Das Papier war jetzt nur noch ein Ball mit Tälern und Schluchten und Bergen. Sabine warf ihn quer durch die Küche in eine Ecke. Sie bezweifelte, dass er lange dort liegen würde. Nein, wahrscheinlicher war, dass …
Stop, Stop, Stop, Sabine, reiß dich zusammen! Was würde Vater sagen, wenn er dich so dasitzen sehen könnte? Wäre er nicht enttäuscht? Wäre er nicht …?
„Schnauze! Er ist nun mal nicht hier! Und das ist die verdammte Schuld dieser Hexe!“
Du glaubst doch nicht wirklich, dass …?
„Was? Was soll ich nicht glauben?“
Dass an dieser Sache irgendwas dran ist! Das sind doch alles nur Hirngespinste! Nichts weiter!
„Und wie erklärst du dir dann, dass ausgerechnet in unserer Familie so viel geschrieben wurde? Das war doch bei anderen nicht so!“
Nun, einen möglichen Grund hat Vater dir doch schon gesagt: Ihr wart und seid nicht eben schlecht betucht. Da hat man viel Zeit zum Schreiben und Grübeln. Und noch ein Grund ist, dass der Verfolgungswahn in eurer Familie recht ausgeprägt sein muss …
„Was soll das denn nun wieder heißen?“
Dass eure Sippe ganz schön abergläubisch ist und scheinbar jeden Schwachsinn für bare Münze hält!
Von da an hatte Sabine keine Lust mehr, mit ihrer inneren Stimme zu diskutieren. Sie spie ein weiteres „Schnauze!“ in die leere Küche. Dann sah sie noch einmal auf das zerknüllte Stück Papier, das ein Stück neben ihr auf dem Boden lag – und griff sich ein neues.
Diesmal war es eines, das nicht ganz so weit zurückreichte. Es ging um eine Tante Margarethe, die mit ihrer Familie an der Jungfernfahrt der Titanic teilnahm. Die kleine Olivia, damals kaum sechs Jahre alt, war die einzige, die den Untergang des Schiffes überlebte. Die restlichen Mitglieder ihrer Familie folgten dem stolzen Dampfer in die dunklen Tiefen des Atlantiks.
Diesmal schauerte Sabine. Es ging zwar nicht so blutig zu wie in den Episoden zuvor, dafür war das aber noch gar nicht so lange her. Sie hatte davon in der Schule gehört, und nicht zuletzt hatte sie den Film mit Leonardo Di Caprio und Kate Winslet gesehen. Und das führte ihr das Ganze doch sehr real vor Augen. Jedenfalls viel realer, als es irgendeine Frau geschafft hatte, der vor dreihundert oder vierhundert Jahren der Körper bei lebendigem Leib verfaulte. Schon seltsam, ging es ihr durch den Kopf, wenn man selbst was damit verbindet, kommt es einem viel schrecklicher vor …
Sie schob das Blatt beiseite – und hatte auch schon das nächste gegriffen, obwohl sie es am liebsten nicht getan hätte. Ihretwegen konnte der ganze Scheiß ihr langsam gestohlen bleiben! Doch die angeborene Neugier in ihr war anderer Meinung. Sie steckte nämlich ihre Nase liebend gern in Neuigkeiten. Sie sog sie regelrecht auf, wie ein Schwamm.
1830 war es gewesen, stand da, da lag Europa im Würgegriff der Cholera. Trotz der Einnahme großer Dosen von Kalomel, einer Quecksilberverbindung, die man gewöhnlich als Abführmittel nutzte und sogar Rizinusöl, starb ein Großteil der Familie. Jedoch, und das musste man dazu sagen, fiel das zu dieser Zeit nicht auf, da die Menschen überall tot vor den Häusern und auf der Straße lagen. Ihre Lippen waren blau, und die wenigen, die noch nicht tot waren, zuckten unter Muskelkrämpfen. Es war ein Bericht, der weit in die Vergangenheit zurückreichte, und gewiss starben durch diese Krankheit Unzählige, aber weil es schon so weit zurücklag, kam es Sabine nicht halb so schrecklich vor wie der Untergang der Titanic.
Doch