Die letzte Seele. Lars Burkart
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Jerome, der mittlerweile zur Größe eines Reiskornes geschrumpft war, wurde noch etwas kleiner. Paul starrte ihn so verbissen an, dass er es bereute, hergekommen zu sein. Welcher Esel hat mich bloß geritten, dachte er wieder und wieder, während er fürchtete, in den Ritzen des Sessels zu versinken.
„Ich warte.“ Ungeduldig klopfte Paul mit den Füßen auf dem Boden herum.
„Sie ist …“
„Ja? Wo denn nun? Ich höre nichts!“
In diesem Moment warf Jerome alle Versprechungen über Bord und verriet es Paul. Er dürfte es um nichts auf der Welt verraten, hatte sie ihm eingebläut. Aber das war leichter gesagt als getan, wenn man jemand gegenüber saß, der nicht nur nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, sondern überhaupt kein Geschirr mehr besaß.
Genau neunzehn Minuten und dreiundfünfzig Sekunden später stand Paul am Eingang des St. Georgien Hospitals. Unentschlossen zupfte er an seinem T-Shirt und ging hinein. Jerome hatte ihm verraten, wo sie lag und war dann wie ein angestochenes Schwein davongesaust – nicht, ohne ihm vorher einen Besuch bei einem Psychiater zu empfehlen. Und kaum dass Jerome sich aus dem Staub gemacht hatte, war Paul in den Porsche gesprungen und wie ein Teufel durch die Stadt gefahren. Das St. Georgien Hospital lag ein wenig außerhalb inmitten eines großen Waldstückes.
Paul fuhr die ganze Zeit mit Vollgas, das Gaspedal war bis zum Boden durchgetreten, und sein Schutzengel musste Überstunden machen, ob er nun wollte oder nicht. Als er durch den Regen preschte, überlegte er kurz, warum sie Jerome zu ihm geschickt hatte. Wollte sie ihn eins auswischen? Hatte sie Spaß daran, ihn zu quälen? Scheinbar ja. Er sah keinen anderen Grund.
Jetzt, da er sich im Eingangsbereich des Krankenhauses befand, hielt er das Ganze gar nicht mehr für eine so gute Idee. Paul hatte Bedenken, ob der Weg, den er eingeschlagen hatte, richtig war. Was erwartete ihn? Wie würde Jeannette reagieren? Ob sie ihn überhaupt beachtete? Paul kannte sie gut genug. Er wusste, wozu sie fähig war. Er hatte das in den letzten Tagen oft genug erfahren müssen.
All das ging ihm durch den Kopf, als er langsam weiterging. Es konnte seine Schritte bremsen, ihn aber nicht aufhalten. Was ihn aufhalten konnte, war die Angst vor seiner eigenen Reaktion. Bei dem Ganzen hatte er sich kein einziges Mal Gedanken um sich selbst gemacht. Wie werde ich reagieren? Kann ich mich beherrschen oder raste ich einfach aus und falle wie eine wildgewordene Hyäne über sie her? Oder bin ich imstande, mich ruhig und gesittet zu verhalten? Da das alles noch im Dunkeln lag, entschloss er sich, weiterzugehen und es auf einen Versuch ankommen zu lassen.
Die Schritte führten an der Cafeteria vorbei, und hier lag ein Duft von Gebäck, Kuchen und Kaffee in der Luft. Aber da war auch noch etwas anderes. Paul stockte einen Augenblick. Vor Jahren war sein Vater in genau diesem Krankenhaus an Krebs zugrunde gegangen, und dieser Geruch brachte ihm das wieder so in Erinnerung, dass er meinte, es sei gestern gewesen. Warum meinte man in einem Krankenhaus immer die Gegenwart des Todes zu spüren? Nirgends war er so präsent wie dort. Paul glaubte, dass dies den Besuchern noch deutlicher gewahr wurde als den Patienten. Vielleicht vernebelte der Tod einem die Sinne, sodass man, wenn man einige Zeit unter seinem Einfluss stand, gar nichts mehr davon mitbekam?
Paul riss sich aus seinen Gedanken und sah sich verstohlen um. Hatte er etwa wie ein Idiot dagestanden, mit weitgeöffnetem Mund und Augen so groß wie Suppenteller? Schließlich ging er weiter.
Pling, machte es, als sich die Fahrstuhltür hinter ihm schloss. Jetzt stand er im vierten Obergeschoss. Es sah hier genauso aus wie im Erdgeschoss, nur die Cafeteria fehlte. Langsamen Schrittes ging er weiter. Der Flur lag vor ihm im Halbdunkel. Vereinzelt stand eine Tür offen. Aus dem Schwesternzimmer dudelten leise Oldies, und ab und an stöhnte jemand. Es klang wie eine stumpfe Säge auf Holz. Seine Nackenhaare richteten sich nach oben; er hatte ein Déjà-vu-Erlebnis. Damals, als er seinen Vater zum letzten Mal lebend gesehen hatte, hatte er das gleiche quietschende Geräusch gehört. Es war von seinem Vater gekommen, der solche unerträglichen Schmerzen hatte, dass jeder Atemzug einem Krächzen glich. Wenige Stunden später war es vorbei gewesen.
Paul stand stocksteif da und nahm es kaum wahr, als eine Schwester an ihm vorbeihastete. Die Erinnerung an seinen Vater war schmerzlich, aber fehl am Platz. Jetzt hieß es, einen kühlen Kopf zu bewahren. Da konnte er diesen Schmerz nicht brauchen. Es überraschte ihn, wie er den Vater in diesem Moment plötzlich vermisste. Aber vielleicht lag das auch nur an den unangenehmen Erinnerungen, die die Umgebung in ihm wachrief. Er musste schnellstmöglich auf andere Gedanken kommen. Schließlich war sein Vater seit mehr als zehn Jahren unter der Erde. Hatte er, Paul, je um ihn geweint?
Langsam löste sich die Starre, und er lief langsam den Flur hinunter. Aufmerksam studierte er die Zimmernummern. Hatte Jerome vierhundertsechzig oder vierhunderteinundsechzig gesagt? Egal, ein Versuch konnte nicht schaden.
Vierhundertsechzig war die erste. Er trat ein, ohne anzuklopfen.
Als er in das Zimmer trat, traf ihn fast der Schlag. Ja, es war das Zimmer seiner Frau. Aber als er sah, was er sah, wünschte er sich sehnlichst, er wäre nie hergekommen.
Jeannette hatte ein Einzelzimmer. Kein Kunststück, schließlich war sie privat versichert. Um ihren Kopf war ein Verband gewickelt, auf dem sich rote Flecken abzeichneten. Trotzdem war sie noch immer so schön, wie er es in Erinnerung hatte. In ihrem Gesicht tummelten sich Sommersprossen, und ihre Lippen schienen fast noch voller als bei ihrer letzten Zusammenkunft. Ihr langes Haar, das unter der Bandage hervorlugte, war gepflegt, wenn auch blutig. Einen Moment meinte Paul sogar, es riechen zu können. Als sie noch ein frischverliebtes Paar waren, hatte er ihr öfter das Haar gewaschen. Wieder etwas, was er schon lange nicht mehr getan hatte, wurde es ihm siedend heiß bewusst. Das einzige, was ihre Schönheit ein wenig entstellte, war der Bluterguss an ihrer linken Wange. Er erstreckte sich fast über die gesamte Gesichtshälfte. Sie musste böse hingefallen sein. Aber nicht der Bluterguss war es, der ihm einen Schlag versetzte, sondern der wildfremde Mann, der da auf ihrem Bett saß und ihre Hand hielt. Einen Moment war er so naiv zu glauben, es sei der Arzt. Allerdings hielt das nur den Bruchteil einer Sekunde vor. Wenn aber nicht der Arzt, wer dann? Wer?
Langsam dämmerte es ihm. Das hatte er weniger seiner Intelligenz als vielmehr dem ramponierten Aussehen des Mannes zu verdanken. Er sah aus, als hätte er vor nicht allzu langer Zeit einen Unfall gehabt. Einen … Motorradunfall vielleicht? Aber das hieße ja … nein, nein! Oder doch? War das möglich?
Mit einem Mal war ihm speiübel.
He, was soll das, wollte er sie anfahren, aber er brachte kein Wort heraus. In seinem Kopf leuchtete immer wieder ein einziger Satz auf, wie eine Leuchtreklame. Er war hell und grell und verkündete in roten, blauen, grünen und gelben Lettern: Diese verdammte Saubande hat ein Techtelmechtel! Diese verdammte Saubande hat ein Techtelmechtel! Diese verdammte Saubande hat ein Techtelmechtel! Diese verdammte Saubande hat ein Techtelmechtel! Licht an. Licht aus. Licht an. Licht aus. Licht an. Licht aus. Licht an.
Wie sie sich anstarren, igitt! Sie haben mich noch nicht mal bemerkt. Warum, zum Henker? Fieberhaft sann er über den Grund nach. Da verschwand endlich die Neonreklame aus seinem Kopf. All das geschah im Bruchteil einer Sekunde. Plötzlich ein dumpfer Knall hinter ihm. Die Zimmertür. Aha, dachte er, darum kam ich mir vor wie Luft.
Nun sahen auch