In einer Nacht am Straßenrand. Ben Worthmann
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„Nett, dass Sie sich um mich gekümmert haben“, sagte sie.
„Kein Problem, so etwas ist doch selbstverständlich. Im ersten Moment haben Sie mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, als ich Sie da so sah.“
„Normalerweise pflege ich Männer nicht zu erschrecken“, sagte sie mit einem unvermutet koketten Unterton. Ohne darauf einzugehen, fragte er sie erneut, ob denn nun wirklich alles in Ordnung sei und sie weiterfahren könne.
„Ja, alles okay, und nochmals schönen Dank“, sagte sie und stieg wieder ein. Ihre Tasche packte sie auf den Beifahrersitz, dann winkte sie noch einmal kurz und fuhr davon. Leonhard sah ihr nach und merkte sich die Autonummer – weniger aus einem speziellen Grund als aus Reportergewohnheit.
Als er zu seinem Volvo zurückgehen wollte, stieß er mit dem Fuß gegen etwas Metallisches. Er bückte sich und hob eine kleine Dose mit einem bunt emaillierten Deckel auf. Im Wagen schaltete er die Innenbeleuchtung an und betrachtete sie genauer. Offenkundig handelte es sich um ein Pillendöschen, das der Frau aus der Handtasche gefallen war. Es war aus Silber, fein gearbeitet und mit Jugendstilmustern verziert. Auf dem Deckel war ein Frauenkopf zu sehen, umgeben von Ranken. Auf der Rückseite des Bodens befand sich eine eingravierte Widmung: „In Liebe, Dein B.B.“ Er schob es in die Tasche seiner Jeans. Vermutlich hatte es einigen Wert, eine kleine antiquarische Kostbarkeit. Und bestimmt besaß es einen besonderen Wert für die Frau.
Im Radio lief inzwischen nicht mehr Adele, sondern Coldplay, was nicht so nach seinem Geschmack war. Er schaltete es aus, da es kaum mehr lohnte, einen anderen Sender zu wählen. Zu Hause ließ er den Volvo in der Einfahrt stehen, statt ihn in die Doppelgarage neben Hannas Corsa zu stellen. Er fühlte sich mit einem Mal müde und verschwitzt. Vielleicht sollte er noch eine Dusche nehmen. Nein, lieber nicht. Im Haus herrschte tiefe Ruhe und er wollte niemanden aufwecken. Auch Hanna war bereits vom Sofa hinauf ins Schlafzimmer umgezogen.
Er kroch zu ihr unter die Decke, ohne dass sie es mitbekam, nachdem er zuvor noch an den Türen von Paul und Marie gehorcht hatte, hinter denen sich ebenfalls nichts mehr zu regen schien. Eine Weile lag er wach. Er musste an die junge Frau denken. Wer mochte sie sein? Was machte sie beruflich? Wohin war sie unterwegs gewesen? War sie verheiratet? Hatte sie einen Ehering angehabt? Er wusste es nicht mehr, erinnerte sich aber daran, dass sie keinen auffälligen Schmuck getragen hatte, außer den Ohrstickern nur eine kleine Armbanduhr und eine schlichte Halskette aus Silber oder auch Platin.
Auf jeden Fall würde er dafür sorgen, dass sie ihr Pillendöschen zurückbekam. Sie würde es sicherlich vermissen. Zum Glück hatte er sich ja das Autokennzeichen gemerkt, und da er die Leute bei der Polizei kannte, würde es kein großes Problem sein, über eine Halterabfrage die Adresse der Frau herauszubekommen.
Dann schlief er ein.
2. Kapitel
Als er aufstand, hatte Hanna bereits den Frühstückstisch auf der Terrasse gedeckt. Leonhard freute sich auf Kaffee und frische Brötchen. Die Dusche ließ er abermals ausfallen, putzte sich nur die Zähne und schlüpfte in Jeans und T-Shirt. In der Hosentasche stieß er auf das Pillendöschen. Er nahm es heraus und verstaute es in seiner Aktentasche. Er würde sich am Montag gleich darum kümmern.
Es war schon fast elf und wieder genau so warm wie am Tag zuvor. Marie und Paul saßen am Tisch und rangelten, wie beinahe jeden Morgen, um das Nutella-Glas. Von diesen kleinen Rangeleien gab es täglich einige, wirklich ernst waren sie so gut wie nie. Mit ihren zehn und zwölf Jahren waren sie beide noch ziemlich kindlich oder, wie Hanna zu sagen pflegte, „handsam“. Paul ging seit zwei Jahren zum Gymnasium, Marie würde nach den Sommerferien ebenfalls dorthin wechseln. Beide hatten sie ihre Freunde und Freundinnen. Paul spielte begeistert Fußball, Marie bekam Ballettunterricht. Ihre größte Sorge schienen momentan Fragen wie die zu sein, ob sie morgens lieber in Jeans oder Rock zur Schule ging und ob sie sich vielleicht einen Vollpony schneiden lassen sollte oder besser doch nicht. Mit dem Frühstück waren die beiden rasch fertig und verabschiedeten sich bis zum frühen Abend. Sie waren mit Kindern aus der Nachbarschaft verabredet.
„Komm, lass uns noch einen Kaffee trinken und eine rauchen“, schlug Leonhard vor, als sie weg waren. Hanna rauchte gern, aber immer mit schlechtem Gewissen. Seit einigen Jahren gönnte sie sich nur noch morgens eine ganze Zigarette. Die anderen sieben, acht rauchte sie nur halb und ohne zwischendurch die Asche abzustreifen, sodass sie pro Tag schlimmstenfalls auf fünf kam. Und die ließen sich vertreten, fand sie.
Sie hatte die nackten Füße auf die Sitzkante des Stuhls hochgezogen und den Kaffeebecher auf den Knien platziert. In ihren weißen Shorts und dem Trägertop wirkte sie besonders jung. Man sah ihr wirklich nicht an, dass sie siebenunddreißig und Mutter von zwei halbwüchsigen Kindern war. Leonhard dachte oft, dass sie sich in all den Jahren kaum verändert hatte. Immer noch war sie fast mädchenhaft schlank. Ihr kinnlanges, hellblondes, leicht gewelltes Haar glänzte in der Sonne. Sie schminkte sich kaum – etwas Puder auf die hohen Wangenknochen, das war's. Und natürlich Lippenstift, den benutzte sie mehrmals täglich. Leonhard hatte einmal mit angehört, wie Marie ihrer derzeit besten Freundin Pia erzählte: „Ohne Lippenstift kann meine Mutter nicht leben.“ Die Kleine hatte bestürzt gemeint: „Echt? Das ist ja schlimm.“
„Es ist ja gestern ganz schön spät geworden, ich habe gar nicht mehr gemerkt, wie du gekommen bist“, sagte Hanna, während Leonhard zwei Camel anzündete und ihr eine davon reichte.
„Ja, es nahm wieder mal kein Ende. Gerade, wenn ich dachte, wir hätten's gepackt, kam wieder irgendwas Neues rein oder jemand wollte etwas von mir. Dann hatten wir auch noch ein Computerproblem.“
„Na ja, jetzt hast du ja erst mal Pause, mein Lieber. Die hast du dir auch wirklich verdient.“
Nachdem Hanna den Tisch abgeräumt hatte, blieb er noch eine Weile sitzen. Er blickte auf den kleinen Garten und dachte wieder einmal, wie gut es doch gewesen war, dieses Haus damals zu kaufen, als die Immobilienpreise am Stadtrand noch erschwinglich waren. Es war ein Eckhaus und gehörte zu einer ehemaligen Werkssiedlung für die Arbeiter einer Fabrik, die es längst nicht mehr gab, und alle Häuser waren im Zuge der sogenannten Gentrifizierung hübsch restauriert worden, jeweils nach den Wünschen der neuen Besitzer. Ihres hatte abgezogene Dielen in dem großen Wohnraum mit Glaswand zum Garten, die Böden in Küche und Bad waren schwarz-weiß gefliest, die Wände mit dem etwas rauen Putz schlicht geweißt – ganz nach seinem und vor allem Hannas Geschmack, die ein Händchen für dergleichen besaß. Schließlich war sie Innenarchitektin. Alles passte zusammen und hatte seinen Platz. Hanna verstand es einfach, dafür zu sorgen, dass es behaglich war und sie sich wohl fühlen konnten, vor allem Leonhard, der sich nicht so sehr um diese Dinge kümmerte.
Als sie sich kennengelernt hatten, vor fast fünfzehn Jahren, steckte sie noch mitten in ihrem Studium, während er bereits bei der Zeitung angefangen hatte. Seit die Kinder da waren, übte sie ihren Beruf aber nicht mehr regelmäßig aus, sondern übernahm nur noch gelegentlich Aufträge. Die Summen, die dadurch zusätzlich in die Haushaltskasse kamen, waren dennoch beachtlich, und mehr als einmal hatte sich Leonhard bei heimlichen Kalkulationen ertappt, die besagten, dass Hannas Arbeit deutlich besser bezahlt wurde als seine eigene, auch wenn er mit seinem Gehalt zufrieden war.
Hanna