Villa am Griebnitzsee. Beate Morgenstern
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Dieses Mal hatte Georg eine Kassette bei sich gehabt. Ein anderes Mal war es ein großer Apfel. Er bestand darauf, ihn in der Mitte durchzuschneiden und ihr die Hälfte zu geben.
Immer mehr bezog Susanne Georg in ihre Gedanken ein. Die Nähe war leicht herstellbar. Georgs Großmutter lebte im selben Ort wie Susanne, ein Teil noch zu Berlin gehörig, er wohnte mit seiner Familie im Nachbarort, noch im S-Bahnbereich. Das Haus seiner Eltern offenbar von Rückübertragungsansprüchen nicht betroffen wie Häuser sehr vieler anderer hier. Raffe, raffe, Häusle klaue, nannte man im Volksmund den Entscheid Rückgabe vor Entschädigung. Man war in Deutschland angekommen. Und dieses Deutschland war kalt. Aber es gab diese jungen Männer, Ersatz für die Hauswirtschaftspfleger in DDR-Zeiten, damals Aussteiger zumeist, die Alten und Bedürftigen geholfen hatten.
Georg hatte seinen Professor in Weimar besucht. Der Professor war mit ihm zufrieden gewesen. Georgs kindlich-schneidiges Gesicht nun nur noch kindlich, als er davon sprach. Dann wieder war er müde von den Auftritten seiner Band am Wochenende. Geld spielte eine große Rolle. Die Band brauchte Technik, Verstärker, Mikros. Die Jungen sparten. Blieb bei den Besuchen Zeit zum Reden, erzählte Susanne Georg von Filmen und Geschichten, die sie gehört oder selbst erlebt hatte.
Manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie laut mit Georg sprach, obwohl er nicht da war.
Ich komme aus kleinen Verhältnissen, erklärte sie dem abwesenden Georg. Ich hab wohl das Klavier zu Hause traktiert, unheilbar verstimmt seit der Überschwemmung der Euba in den zwanziger Jahren, aber mehr war für mich nicht drin. Eines Tages hätte ich den Laden meiner Mutter übernehmen sollen.
Von frühmorgens bis spätabends und oft noch am Wochenende das Läuten der Klingel. Die Mutter läuft in den Laden: Gudn Tach, Frau Sowieso, gudn Tach, Herr Sowieso, was darf'sn sein? Um Pfennige, um das Geld, Geschäft dreht sich alles. Schon als Vierjährige rennt Susanne ins Kino, hat bei Kino-Marquardt ihren Platz. Für eineinhalb Stunden schaut sie in eine andere Welt, in der Mut etwas gilt, und Ehrlichkeit und Gerechtigkeit sich durchsetzen. Oder die einfach schön ist, leicht, heiter:
"Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt, ein Freund bleibt immer Freund, selbst wenn die ganze Welt zusammenfällt ... "
Von nichts kommt nichts. Immer gibt es irgendeinen Anstoß, der den Stein ins Rollen bringt. Sonst liegt er da, rührt sich nicht. Es kann nicht sein, denkt der Mensch. Wie kann etwas sein, was nie war! Die Mauksch-Irmgard verdirbt dich!, barmt die Mutter. Sie setzt dir Flausen in den Kopf! Mitten in der Verwandtschaft von Händlern und Gastwirten Mauksch-Irmgard, eine Sängerin! Die bringt Susanne darauf, dass es beim bloßen Wünschen, Sehnen nicht bleiben muss. Mauksch-Irmgard nimmt Susanne in eine Premiere nach Dresden mit. Der Vorhang geht auf. Die Welt, die sie dort sieht, hat nichts mit der gemein, in der sie lebt. Von da an wird Susanne von Kino, Film, Theater nicht mehr lassen. Und wenn sie Platzanweiserin würde, wie Susannes leibliche Mutter, die sie wenige Jahre später kennenlernt.
Mauksch-Irmgard verschwindet zu einem westdeutschen Industriellen nach Bayern. Susanne marschiert zum Chefdramaturgen des Theaters von Karl-Marx-Stadt, vormals Chemnitz, nachmals Chemnitz oder Karl-Chemnitz, wie ein ehemaliger Studienfreund zu sagen beliebt. Mauksch-Irmgard hat sie noch bekannt gemacht. Susanne kann sogar ein Anliegen vorbringen. Für den Schulfunk kommt sie. Auch ein Chefdramaturg kann oder will vielleicht nicht Nein sagen, wenn ein Kulturobmann der FDJ in quasi gesellschaftlichem Auftrag zu ihm kommt. Und erst recht nicht, wenn er Susanne heißt. So ein Typ fällt auf, draufgängerisch, kräftige Gestalt, dicker, schwarzer Pferdeschwanz, engstehende gelbe Augen, breite Wangenknochen, lange gebogene Nase, kleiner voller Mund wie ein küssendes Herz im Gesicht. Das Gespräch dehnt sich aus. Friedrich Wolf, in der Schule gepriesener Autor von "Professor Mamlock", "Zyankali", wird von dem Chefdramaturgen achselzuckend zur Seite getan. Wir müssen die Stücke spielen, sagt er. Das wirkliche Leben, die wirkliche Kunst ist was anderes. Und Pavel Kohout?, fragt Susanne. Nee, sagt der Chefdramaturg. Schauen Sie sich Goldoni an, das ist Theater, die Commedia dell'Arte. Molière.
Susanne erhält Maßstäbe, wird sich von Gerede nicht mehr irremachen lassen.
Der untergeordnete Dramaturg Susannes nächster Ansprechpartner. Ich interessiere mich für Theater, sagt sie. - Und was interessiert Sie am Theater? - Warum die Leute auf das eine Stück so gut reagieren, auf ein anderes weniger. - Na, was meinen Sie denn, warum? Was macht Kunst aus? Wie wirkt Kunst? Warum sind bei bestimmten Stellen die Leute ergriffen? Ein Plan steckt dahinter, ein Gefüge, erkennt Susanne.
Der Chefdramaturg bietet Susanne an, in eine Generalprobe zu kommen. "Wallenstein". Mitten im Text unterbricht der Regisseur, ruft etwas nach oben. Der Schauspieler zieht den Degen. Wirft ihn auf den Boden. Ist ja Mist!, ruft er. Wenn Sie noch einmal so mit mir sprechen, lass ich mir das nicht gefallen. Was ist das für eine Art! Er spricht volltönend, mit "Röhre" - Sie haben gefälligst meine Konzeption umzusetzen!, donnert der Regisseur. Und wenn Sie das nicht bringen, dann fällt meinetwegen heute Abend die Premiere aus!
"Wenn ich irgendeinen Witz anfange, stiehlst du die Pointe, wenn ich Diät esse, nimmst du ab. Wenn ich mich erkälte, du hustest. Und wenn wir jemals ein Kind bekommen sollten, dann bist du wahrscheinlich die Mutter." Die gefeierte Schauspielerin Maria Tura hat einen ihrer spontanen Auftritte hinter der Bühne. "Wenn ich der Vater bin, bin ich zufrieden", entgegnet Joseph Tura trocken.
Da haben wir's ja mal wieder, schreit der Schauspieler, dann fällt die Premiere aus!
Der Assistent redet auf den Regisseur ein. Die Schauspieler oben auf der Bühne schauen beiseite oder lachen. Dann sagt der Regisseur: Ich habe es so und so gemeint und möchte Sie bitten. - Hmhm. Der Schauspieler hebt den Bühnendegen wieder auf. Sagt: Na ja, das muss ja sein. Wenn es bei der Generalprobe keinen Krach gibt, geht die Premiere schief! Steckt den Degen in die Scheide. Gelächter.
"Sein oder Nichtsein", flüstert die Souffleuse. "Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage": sagt Joseph Tura mit bebender Stimme. Und wieder verlässt wie auf Stichwort der polnische Offizier Sobinski in der dritten Reihe den Zuschauerraum.
Mit den Generalproben bekommt Susanne nur ein Endergebnis vorgeführt. Sie will nun an den Proben teilnehmen, in denen alles entsteht. Endlich wird es ihr gestattet. Der Dramaturg kann den Schauspielern erklären: Das Fräulein Burkard bewirbt sich an der Filmhochschule. Susanne saust unter dem Vorwand, den Schulfunk aufzubauen, ins Theater, besucht alle Opern, Schauspiele. Karten liegen für sie bereit. Bis das dicke Ende kommt: das Abitur. Die Klasse war durch Schulen gewandert, an unfähige, überforderte Lehrer geraten. Viele Schüler gaben vorher auf. Der Rest paukt, versucht nachzuholen. Acht fallen durch. In Mathematik war Susanne einmal gut. Sie schafft eine knappe Vier, ein "Mangelhaft" vor dem völligen Ungenügen, der Fünf. Bei der mündlichen Prüfung eine unerklärliche Gedankenleere. Selbst die binomischen Formeln sind ihr entfallen. Wenn man sie doch nach einem Film, einem Theaterstück fragen würde!
"Wer sind Sie? Wie kommen Sie hierher?" Joseph Tura zu dem polnischen Offizier Sobinski, den er in seinem Schlafzimmer vorfindet. - "Bin abgesprungen mit einem Fallschirm." - "Ach, mitten in mein Bett?" In das Gespräch zwischen Joseph Tura und Offizier Sobinski, der aus England zurückkehrte, um den Spion Siletsky unschädlich zu machen, kommt Maria Tura. Es sei keine Zeit zu verlieren, erklärt sie. Sie müsse mit Siletsky essen gehen und ihn umbringen. Joseph versteht kein Wort, weist auf alle Fälle Sobinski in die Schranken: "Ich entscheide, mit wem meine Frau essen geht und wen sie umbringen soll." - "Haben Sie denn gar keinen Patriotismus?", entgegnet Sobinski. - Joseph Tura erbittert: "Jetzt hören Sie mal genau zu. Erst stehlen Sie sich aus meinem Monolog. Und dann stehlen Sie sich in meine Pantoffeln, und dann bezweifeln Sie meinen Patriotismus.