Villa am Griebnitzsee. Beate Morgenstern

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Villa am Griebnitzsee - Beate Morgenstern

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eine Absage von der Filmhochschule. Der Professor hat ihr eine Bemerkung an den Rand einer Seite geschrieben: Bewerben Sie sich in einigen Jahren noch einmal, wenn Sie älter geworden sind! Daran hält sich Susanne, während sie in der wissenschaftlichen Bibliothek der Technischen Hochschule von Karl-Marx-Stadt festsitzt. Der Staub lagert sich auf den Büchern ab, sie mutmaßt, auf Dauer von Jahrzenten auch im Gehirn. Zwei gleichförmige Jahre. Susanne im Lesesaal zur Ausleihe oder an der Schreibmaschine, um Karteikarten anzulegen. Für jedes neue Buch soundso viel Karten. Frauen gehen ächzend mit ihren Bücherkarren, die sie von hier nach da schieben. Und nichts geschieht, rein gar nichts. Das Schlimmste, was Susanne im Leben passieren kann. Immerhin macht sie sich die Dienste der Bibliothek zunutze, bestellt über Fernleihe aus den USA Bücher über den Film. Die Bibliothek wundert sich über hohe Portokosten. Susanne bestellt sich das "International Film Annual" von einem englischen Verlag. Es wird ihr geschickt. Sie behält das Buch. Die Rechnung, zwei Pfund, kann sie nicht bezahlen, wie auch! Abends kann sie blättern, sich aus ihrer kleinen Welt entfernen in die große.

      Einmal begibt sich in der Bibliothek ein mittleres Ereignis. Die Mitarbeiter erhalten eine Einladung zu einer Veranstaltung in der alten Mensa. Studenten, die sonst stumm hinter den Büchern hocken, ganz der Wissenschaft hingegeben, sind plötzlich ganz anders, nämlich normal. Ein Lachen, ein Reden. Und dann: Was will der uns erzählen! Gemeint ist Kurt Hager, vom Politbüro des ZK für Kultur zuständig, im Jahre 58 und bis zum Jahre 89, wo er immerhin schneller als andere seiner Alters- und Politbürogenossen die Wende begreift.

       Zum Tanz aufgefordert von der Königstochter von Tahiti, ruckt, zuckt der Kapitän der "Bounty", der hagere, ehrgeizige Mann, wie ein Hampelmann zappelt er mit Armen und Beinen, immer schnel ler, zackiger. Da erscheint sein Gärtner. Die Brotfrucht, deretwegen die "Bounty" nach Tahiti entsendet wurde, ist eingegangen. Christian Fletcher-Brando, Offizier der Bounty, unendlich gelangweilt, dekadent, betrachtet die Pflanze. "Sie sieht ein bisschen deprimiert aus!", meint er. "Sie haben das Menschenmögliche getan, nur bedrückt mich, dass die Admiralität sich meiner Auffassung nicht anschließen wird"

      Herr Hager referiert. Die Studenten machen deutliche Handbewegungen, gähnen sich an. Das Referat endet. Stille. Keine Hand regt sich. Dann steht doch jemand auf, spricht dem Mitglied des Politbüros für die wichtigen und wegweisenden Worte seinen Dank aus. Die Studenten murren.

      In der Oberschulzeit war Susanne noch die sowjetische Wissenschaft bahnbrechend, maßgebend erschienen. Nicht so an der Hochschule. Die Bibliothek bestellt wenig sowjetische Literatur, nur zu spezifischen Fragen. Alle andere Fachliteratur beziehen sie aus dem Westen. Sämtliche Standardwerke, diverse Handbücher. Die junge technische Intelligenz lässt Herrn Hager ungestärkt von der Basis heimfahren in die Hauptstadt. Als die Studenten die Mensa verlassen, witzeln sie, lachen. Die Verwandlung der stummen Bibliotheksbenutzer ist Susanne noch einmal geradezu wunderbar.

      Susanne schreibt für die "Sächsischen Neuesten Nachrichten", kauft weiter Bücher in einem kleinen Laden im Hotel "Chemnitzer Hof". In den Jahren 56 bis 58 bekommen Buchhandlungen teils noch ein Kontingent von Westbüchern, die man 1: 1 kaufen kann. Die Buchhändlerin, hingerissen von Susannes Wunsch, sich auf den Weg zur Kunst aufzumachen, gibt ihr bis zu 20 Taschenbücher von rororo, Fischer, Ullstein. Steinbecks "Früchte des Zorns" erscheint. Susanne setzt ihrer Verehrerin aus der Buchhandlung als Dank Autogramme unter ihre in der Zeitung erschienenen Artikel. In der wissenschaftlichen Bibliothek gibt es noch Überreste von schöner Literatur um 1900, so dass sie sich über andere Nationalliteraturen der Zeit informiert, "Multatuli" von Max Havelaar wird ihr ein Begriff. Der Erwerb von Büchern fällt ihr leicht. Sie verdient durch Lokalspitzen zu ihrem Gehalt, isst billiges Mensa-Essen. Die Monatsfahrkarte kostet zehn Mark. Und von ihrem Geld muss sie zu Hause nichts abgeben. Susanne geht ins Theater, die Karten bekommt sie weiter umsonst. Auch in die Museen geht sie, oft zum "Steinernen Wald", in der Gegend ausgegrabene versteinerte Holzstämme, manchmal schaut sie sich die Schmidt-Rottluff-Bilder an, die der Maler zurücklassen musste, als er seine Heimatstadt verließ und nach Westberlin ging. Rottluff ein Dorf, inzwischen ein Vorort von Chemnitz. Aller vier Monate fährt Susanne nach Westberlin. Erst für einen Tag, später für zwei, in Ausnahmefällen für drei. Sie informiert sich über das Angebot an der Litfaßsäule, weiß durch Knaurs Lexikon und regelmäßig gekaufte Filmzeitschriften zu unterscheiden, errät oft nur die deutschen Titel, stellt sich ihr Programm zusammen, rast zum Potsdamer Platz in die zwei Kinos, ein drittes in der Ruine des Hotels "Esplanade", Vorschauen verpasst sie, hat es eilig, nach den Filmen hinauszukommen. Einlassdamen schauen wütend auf das rasende Mädchen. Sie fährt mit dem Bus vom Potsdamer Platz über das Reichspietsch-Ufer zum Wittenbergplatz und Ku'damm. Zehn bis zwölf Uhr die erste Vorstellung, die zweite bis halb drei, die dritte bis 17 Uhr, die vierte bis 20 Uhr, die fünfte bis 22 Uhr, vielleicht noch eine sechste. Am nächsten Tag die Tour von vorn. Manchmal folgt ein dritter Tag. "Das Atelier am Zoo", "Filmbühne Wien", "Gloria-Palast", "MGM", "Filmbühne am Steinplatz" das Revier, das sie abgrast. Sie isst fast nichts, hat später mit Salami belegte Brote dabei. Salami fast unverderblich. Doch Susanne mag die Wurst nicht. Die erste Nacht flieht Susanne aus einem ehemaligen Puff, findet keine Unterkunft. Ihrem Chef in der Bibliothek erzählt sie etwas von einer Westberliner Verwandten, die sie manchmal zu besuchen hätte. Ihr Chef rät zum Hotel "Minerva" an der Friedrichstraße. Einen Gruß von ihm solle sie dort ausrichten. Sie bekommt ein Zimmer, bestellt von da an telefonisch vor, sinkt todmüde spätnachts ins schlechte Bett. Ein Besuch alle vier Monate reicht aus, um auf dem Laufenden zu sein. Auch der Progress-Filmverleih bringt in Karl-Marx-Stadt gute italienische, französische Filme. Nicht alle, die es wert sind.

      "... Man überlistete den Feind mit Grazie. Man schlitzte ihm den Bauch mit Schönheit auf. Alles lief am Schnürchen wie im Ballett ... Die Soldaten des Königs fanden den Krieg so unterhaltsam und amüsant, dass sie ihn ganze sieben Jahre dauern ließen. Als die Zahl der Toten allmählich die Zahl der Lebendigen überstieg, schloss man daraus, dass sich die Truppenstärke verringert haben müsse. Alsbald machten die Rekrutenwerber die schönen Straßen Frankreichs unsicher. "

      Wenn der Laden geschlossen hatte, hörte das ewige Bimmeln auf. Aber was tauschte man dagegen ein: tödliche Sonntagsstille, die Erwachsene als schöne Ruhe nehmen und die junge Menschen in den Wahnsinn treibt. Susanne begann wieder, mit Georg zu sprechen. Der wusste sicher nichts von Langeweile. Sein Weg war einfach gewesen. Von klein auf spielte er Geige, hatte nur zu entscheiden, ob er aus der Musik einen Beruf machen wollte und welchen. Anders Susanne. Nichts war vorgegeben. Nur, dass ein Stachel in ihr sitzt, dass sie etwas tun, sich bewegen muss. Schon immer musste sie beweisen, sie ist wer. Ä, de Burkard-Nanne!, hat es immer geheißen. Was sie auch tat, nichts galt. Dass die Mutter nicht zugab, sie ist nur ein angenommenes Kind, machte es noch schlimmer. Denn sie konnte den Eubenern nicht bestimmt entgegentreten und sagen: Na und? Die Sonntagnachmittage hasste sie, solange sie zurückdenken kann. Schon am Sonntagmorgen weiß sie: Dieser Nachmittag wird kommen, und es wird sein wie an jedem Sonntag, sie mit der Mutter eingesperrt in der guten Stube. Der ganze Ort wie ausgestorben. Die Mutter sitzt und döst. Und dann der Augenblick, in dem Susanne denkt, eigentlich ist sie tot. Die Mutter auch. Und alles, was sie sieht, existiert nur in ihrer Einbildung.

      Um der jeden Sonntagnachmittag einsetzenden Erstarrung zu entgehen, verfällt sie auf die Idee zu filmen. Sie legt sich eine "Admira" zu, eine Schmalfilmkamera und ein Tonbandgerät. Ein Vorführgerät ist noch von Verwandten da. Sie stiftet drei Jungen und ein Mädchen an. Der Dachboden das Atelier. Auf zwei Stativen Nitrafotlampen. Eine Rolle Schrankpapier über dem Stock, die langsam abgedreht wird, das Roll-Epi. Sie machen einen ordentlichen Vorspann.

       Der Hauptmann, sehr gepflegt, sehr elegant, hält mit leicht näselnder hoher Stimme an die Neulinge eine Ansprache: "Ich wünsche mir, frohe Gesichter um mich zu haben, die auf manierliche Art zu leben verstehen. Und zu sterben natürlich auch. "Beim Anblick Fanfans zeigt der Hauptmann sich zu einem Gespräch über das Abenteuer geneigt, in dem Fanfan die Pompadour und die Königstochter vor Räubern rettete. "Und sie hat Ihnen erlaubt, sie zu küssen?", erkundigt er sich. "Das ist doch kein Wunder, sie wird doch meine Frau", entgegnet Fanjan. "Eine Prophezeiung von Adeline", erklärt der Rekrutenwerber.

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