Villa am Griebnitzsee. Beate Morgenstern
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Ein Monolog, an einen unsichtbaren Georg gerichtet, kam auch nach seinem Weggehen nicht zustande.
Doch die Erinnerungsmaschinerie, einmal in Gang gesetzt, lief: Gersdorf, ein Dorf den Berg hinab, hinauf. Hier ein Häusel, dort ein Häusel, hier ne Fabrik, da eine Fabrik und mal eine abgehende Straße in ein anderes Dorf. Auf halber Berghöhe das Gemeindeamt und das Klubhaus. Da arbeitet Susanne nun in der Gemeindebibliothek. Hat sich versetzen lassen, ist zum Volk gegangen, an die Basis, wie sie Arthur Brauner voraussagte. Ist nun auch der Mutter ein Stück weit entkommen. Bewohnt ein Zimmer bei einem alten Lehrerehepaar. Oberlehrer Schulz und seine Frau nehmen sie an Tochter statt auf. Die Gemeindebibliothek hat einen Bestand von 3000 Exemplaren. Es wird dazugekauft, ausgeliehen vom Kohleschacht oben in Oelsnitz. Die Gewerkschaftsbibliothek dort hat eigene Mittel, ist besser bestückt. Adolf Hennecke, jener, der die Schicht fuhr, in der er alle Normen brach, arbeitet in Oelsnitz. Man hatte sich ihn ausgeguckt von oben. Das kennt man nachher schon. Adolf Hennecke bis in letzte DDR-Zeiten ein Synonym für jene Zeit der ersten Aktivisten, in der der Aufbau mit allen Mitteln betrieben wird. Initiativen wie "Max braucht Wasser", in der Jugendliche mit Mut das Stahlwerk Unterwellenborn aufbauen, werden ins Leben gerufen. Andere, immer neue Namen von Aktivisten, später auch Neuerer genannt, in der Reihe nach Adolf Hennecke. Ein Name fiel Susanne ein. Der fiel jedem ein, der mit der Zeit vertraut war, denn allein der Name machte lachen: Frida Hockauf "Straßen der Besten" mit Fotos an den Flurwänden oder Plakaten an der Werkstraße gab es in späterer Zeit. Susanne also leiht Bücher von jener Oelsnitzer Gewerkschaftsbibliothek wie andere Gemeindebibliotheken auch. Sie kennt dann schon Geschmack und Wünsche der Dorfbewohner. Einem ist es nur darum zu tun, dass die Bücher dick sind. Von Liebe soll es handeln, verlangen die meisten.
"Warte auf mich", sagt Antonio. - "Ich warte auf dich ... Und wenn ich darüber auch weiße Haare kriege und alt und blind werde. Wenn ich inzwischen einen anderen ansehen sollte, dann sprenge ich mich, meinen Vater, meinen Bruder und die ganze Gegend in die Luft." - "Na, das wird ein schönes Feuerwerk."
Die Arbeiter vom Oelsnitzer Kohleschacht besuchen statt der Bibliothek im Schacht Susanne im Klubhaus. Seit man weiß, Susanne kann Klavier spielen, ist sie noch beliebter. Im Saal des Gemeinde-Klubhauses steht ein schöner Flügel. Susannes wegen wird er gestimmt. Susanne spielt den Straßenbauern auf, den Brauereiarbeitern, den Arbeitern vom Kohleschacht, von der Nickelhitt in St. Egidien, Sankt Ekidschen in hiesiger Redeweise, von der Wismut. Moderne Schlager, alte Kamellen spielt Susanne. Ein, zwei Flaschen feinster Deputatschnaps, den die Leute von der Wismut zum Lohn dazubekommen, auf Talons, in Magazinen der Wismut einzutauschen, stehen immer auf dem Tisch. Die Wismut-Arbeiter deshalb beneidet, die Talons als Tauschobjekt begehrt. Die Wismut die sowjetische Fördergesellschaft für Uran, was man leider hier nun auch findet zu Kohle und Nickel und früher Silber dazu. Susanne muss mittrinken. Kriegt Bockwurst spendiert. Doch das Mittagessen in der Brauerei schon zu gut, zu reichlich, vier grüne Klöße auf einem Teller! Lieber Zigaretten!, verlangt Susanne. Sind Frauen dabei, wird getanzt, geschwooft. Man prostet Susanne zu. Die Beine weich, als sie die Straße hoch will. Die Arbeiter torkeln nicht minder. Oberlehrer Schulz ist auf der Wacht, wenn Susanne abends im Klubhaus aufspielt. Wartet, und wenn sie gar nicht kommt, macht er sich mit dem Handwagen auf den Weg, geht die Straße hinunter.
Susanne klammert sich an den Wagen oder lässt sich ganz fallen, der alte Mann zieht sie den langen Berg hinauf, holt sie heim. Oh, oh, Fräulein Burkard, sagt er am nächsten Morgen. Das dürfen Sie nicht machen. Machen Sie das um Himmels willen nicht! Mit ihren zarten Nerven. Und Sie rauchen zu viel, Fräulein Burkard, wie viel rauchen Sie denn? 20 Zigaretten sind es zu jener Zeit schon. Die Frau des Oberlehrers Schulz, eine weißhaarige kleine Dame, sieht sie nur besorgt an, ihr Mann redet für sie mit. Susanne braucht die Abende im Klubhaus, die Verbrüderung mit den Kumpels. Sie braucht die Gespräche mit den Dorfbewohnern, die kommen und sich beraten lassen. Mit steigender Abneigung denkt sie zurück an die wissenschaftliche Bibliothek, die stumm vor ihren Karteikästen sitzenden meist älteren Kolleginnen, an die ebenso stumm vor ihren Büchern sitzenden Jünglinge. Grad die Helga Brauer fehlt ihr. Susanne macht Buchbesprechungen bei der DSF, im Kulturbund. Ist Abende unterwegs. Hat immer zu tun. Man verlangt viel nach Susanne, denn die weiß nicht, dass auch sie verlangen könnte, Geld nämlich, 15 bis 30 Mark wie ihre Kolleginnen für den Abend. Die junge hauptamtliche Bürgermeisterin hält viel von der neuen Bibliothekarin. Und Susanne bekommt als Ausgleich für ihren Einsatz bis in die Nacht den Sonnabend frei, bestimmt die Bürgermeisterin, was Susanne recht ist, denn so kann sie nach Hause fahren, schreiben. Geschichten aufschreiben. Ihre Vorgängerin machte noch am Sonnabendnachmittag Ausleihe. Um eine Ausrede zu haben, nicht zu ihrer Mutter fahren zu müssen, erfährt Susanne. Wie sich die Probleme doch gleichen. Susanne hat Ausflüchte nicht mehr nötig, denn sie hat eine Zuflucht, sie bringt Worte aufs Papier. Rastlos bleibt sie. Das kann es doch noch nicht gewesen sein!, denkt sie.
"Was hast du in diesem Kaff verloren?" - "Hatte keine große Auswahl", sagt Joe, der Alte, ein weiß gekleideter Ganove. Mario und Joe wandern die eine breite Straße entlang, die den Ort ausmacht, unbefestigt die Straße, große Pfützen, einige Häuser, einige Hütten. Sie gehen hinter einem Beerdigungswagen her. Hinter ihnen noch andere Weiße. "Der Mann hatte Fieber", beruhigt sich Joe. Es gäbe auch andere Krankheiten, teilt ihm Mario mit. "Tierchen, die von innen her die Leber auffressen. Lepra. Jeden Morgen sieht man nach. Aber das ist halb so schlimm. Denn hier gibt es eine widerliche, eine chronische Krankheit. Das ist der Hunger."
Susanne frisst sich durch die Weltliteratur der gut bestückten Kreisbibliothek Hohenstein-Ernstthal, kurz Huhnsteen genannt, liest rund um sich, Faulkner, Graham Greene, Theodore Dreiser, bewirbt sich - unerlaubt - gleichzeitig für drei Studienrichtungen. Wieder an der Filmhochschule, diesmal für Dramaturgie. Außerdem für Theaterwissenschaften in Leipzig und für das Studium der Germanistik in Berlin. Im März 59 fährt sie mit Fieber nach Leipzig. In einer Villa findet die Aufnahmeprüfung statt. Zwei junge Herren, mit sich selbst beschäftigt, schreiten gesenkten Hauptes das getäfelte Foyer auf und ab. Susanne steht blöd herum. Sie hat Geschichten abgegeben, die sie für sich geschrieben hat und für die Zeitung, hat Stückanalysen gemacht. Susanne wird gerufen. Drei Herrschaften erwarten sie. Eine Probebühne. Susanne soll die Fabel von "Emilia Galotti" erzählen. Feurig, im Fieber, berichtet Susanne. Die unten sitzenden drei Herrschaften rucken unruhig auf ihren Stühlen. Später kann Susanne deuten, was es damit auf sich hat: Sie versuchten, ihr Lachen zu beherrschen. Was meinen Sie, liebes Kind, haben Sie uns erzählt?, fragt der Professor dann. "Emilia Galotti", sagt Susanne. "Rigoletto" war' s, antwortet der Professor. Aber schön! Eine erstaunliche Aufgabe wird Susanne vorgegeben, vielleicht aufgrund ihrer temperamentvollen Erzählung der falschen Emilia. Spielen Sie, dass Sie warten, sagt der Professor. Ihr Freund kommt. Oder er kommt nicht. Susanne, nicht mehr in der Lage, auf Wünsche einzugehen, steht fassungslos. Der alte Professor Kuckoff sehr ruhig, der Dozent Rohmer gleichgültig. Wir sind uns einig, sagt Käthe Selig, lächelt, schaut die beiden Herren an, wir glauben, dass Sie für Theaterwissenschaft nicht geeignet sind. Susanne ein, zwei Augenblicke wie nicht mehr von dieser Welt, aber noch bei irgendeinem Bewusstsein.
Das Öl brennt. Verwundete, Tote werden auf Lkw gebracht. Die einzige Möglichkeit, den Brand auf den Feldern zu löschen, eine Sprengung durch Dynamit. "Hier gibt's genug Gesindel", sagt während einer Besprechung einer der Öl-Bonzen, der sich O'brabim nennen lässt. "Auf ihrem Buckel würden die das Zeug 10000 Kilometer weit schleppen ..."
Nein, nein, sagt Käthe Selig. Wissen Sie, die Theaterwissenschaft ist eine trockene Arbeit. Wo hat das Susanne schon mal gehört? Was Sie eingereicht haben, sagt Käthe Selig, ist sehr lebendig geschrieben. Deshalb sind wir der Meinung - wieder sieht sie zu den Herren hin -, bei den Journalisten sind Sie viel besser am Platz, Fräulein Burkard. Wir haben uns mit der Fakultät der Karl-Marx-Universität in Verbindung gesetzt. Ihre Unterlagen sind bereits dort. Wir wollten uns eigentlich heute nur noch mal mit Ihnen unterhalten! Susanne kommt langsam zu sich. Nein, nein!, sagt sie. Da hätte ich doch gleich das Volontariat in Karl-Marx-Stadt annehmen können, das man mir angeboten hat! Nicht Journalistik, das nicht, denkt sie.