Villa am Griebnitzsee. Beate Morgenstern
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Ernstel, Tänzer bei der Staatsoper, dreht vor der Kamera Pirouetten, springt. Susanne denkt sich kleine Geschichten aus. Susanne geht auch zu Bekannten, in die Gärtnerei, um zu filmen. Wenn Susanne die Filme zurückbekommt, sie geschnitten, geklebt hat, sitzt das junge Eubener Volk rauchend im kleinen Wohnzimmer der Burkards neben- und übereinander. Die Mutter schaut kurz ins Wohnzimmer, vermutlich zufrieden, dass Susanne etwas gefunden hat, womit sie sich beschäftigt. Die Boehms, die alten Verwandten, staunen. Schon lange haben sie nicht mehr das Sagen.
II
Georg sah auf den Zettel, den Susanne ihm gab. Alle 14 Tage bekam Susanne am Kiosk vorn am Bahnhof ein Heft und eine CD zu einem billigen Preis. Was ist für heute angekündigt?, fragte er.
Mozart, Sinfonie Nr. 1. Ich freu mich schon. Und ein Andante eines Orchesterstücks.
Georg verzog das Gesicht. Ach na ja, Mozart, sagte er.
Was haben Sie gegen Mozart?
Da ist doch manches sehr verspielt!
Was haben Sie eigentlich für einen Lieblingskomponisten?
Sarasate. Für einen Geiger ganz klar. Und die Romantiker.
Bei denen treffen wir uns wieder, sagte Susanne.
Durch ein Grinsen gab Georg zu verstehen, er war, was Mozart betraf, zum Verzeihen geneigt.
Ich könnte ihm erzählen, wie ich den 17. Juni 53 erlebt habe, sagte sich Susanne, während Georg unterwegs war. Das wird ihn interessieren.
Nach seinen Einkäufen war Georg geneigt, Susanne zuzuhören. Und so begann sie von jenem Tag zu berichten:
Susanne wie jeden Morgen im überfüllten Zug nach Karl-Marx-Stadt zwischen Arbeitern von Secura, der Harlaß-Gießerei, von Diamant, vom 7. Oktober, vom Fritz-Heckert-Werk. Ein Murren unter den Arbeitern: Ene Schinderei. Was solln das noch wern, wer solln das noch schaffn. Un for das Geld! De Norm erhöhn, das könn se, aber frach mich, was se sonst könn! Susanne läuft den Trampelpfad zur Schule, die Innenstadt eine Ödnis. Trümmer weggeräumt, aber noch nichts oder wenig neu gebaut. In der Pause dann ein Zischen: Meine Güte, heute is was los! Habter schon gehört? Die streikn! Die streikn! Ein großes Wundern unter den Schülern. Streiks sind verboten. Die Betriebe volkseigen. Ein Volk kann nicht gegen sich selbst streiken!, wird argumentiert. Plötzlich drehen sich die Köpfe in Richtung Hofmauer. Zwei Gestalten in gestreifter Kleidung klettern über die Mauer der Schule am Kassberg. Die mussten schon eine ganze Weile gelaufen sein. Ein Gejohle, ein Geklatsche geht los! Hurra! Hurra die Freiheit! Die Stimmung unter den Schülern aufgeheizt. Ein Häftling bleibt verdutzt stehen, der andere rennt gleich weiter. Die Lehrer merkwürdig aufgeregt. Und dann werden die Schüler früher nach Hause geschickt. Susanne schließt sich zwei anderen Mädchen in Richtung Bahnhof an. Heute ist man lieber nicht allein. Am Seiteneingang des Hauptbahnhofs ein Panzer. Susanne müsste in zwei, drei Metern Entfernung vorbei. Die Erinnerung an schießende Panzer zu mächtig. Auch am Haupteingang Panzer, russische Panzer, von Polizisten bewacht. Ob sie wollen oder nicht, die Mädchen müssen an ihnen vorbei zu den Zügen. Sie schleichen, huschen. Erwachsene werden kontrolliert. Die Mädchen nicht. Man sieht ja, Schüler, Lehrlinge. Mittags nur wenige Leute auf dem Bahnhof, in den Zügen. Susanne dämmert vor sich hin, als eine Frau die hohen Stufen zum Abteil erklimmt, sich schnaufend hineinhievt. Oh, oh, o Schreck, o Schreck, sagt sie zu einem Mann. Ham Se das gesehn? - Nee, nee, hab nischt gesehn!, brummt der Mann.- Aber ich, ich hab se gesehn!, sagt die Frau. Sie sin gekomm mitm großn Transparent: WIR STREIKEN! NIEDER MIT ULBRICHT!
"... Ich hoffe, das bedeutet, dass der Waffenstillstand Gott sei Dank aufhört und endlich wieder normale Zustände eintreten! Es lebe der Krieg. Freunde! Trompeter! Zum Sammeln geblasen. " Die Stimme des Hauptmanns überschlägt sich vor höchstem Entzücken.
Die Stimme der Frau schrill. Susanne denkt: Mach die Ohren zu, am besten, du bist nicht da! Die Frau beruhigt sich nicht. Sie spricht einen Nächsten an und einen Übernächsten. Ham Se das gesehn! Ham Se das gesehn! Keiner antwortet ihr. Alle tun, wie Susanne es tut. Bis ein alter Mann kommt. Auch ihm muss die Frau berichten. Und der rückt die arme Frau zurecht, die gar nicht mehr weiß, ob sie heute, gestern oder morgen lebt: Na ja, sagt der alte Mann. Dann kriechn die och mal gezeicht, dasse nich machn könn, wasse wolln! Die nächste Station steigen Eisenbahner zu, die Schichtwechsel hatten. Die brechen das Schweigen der Einzelnen. Mensch, habter das gehört, die mit ihrer Normerhöhung! Ham se ihm doch alles vorgearbeit. Die Männer reden über den Aktivisten Adolf Hennecke, der auf dem Oelsnitzer Schacht die Norm durchbrach. Die Bahner fangen an zu lachen, zu toben. Einer sagt: Un wennch heut nach Hause komm und meine Frau saacht wieder, se hat keene Schuh for unsern Kleen gekricht, da hau ich ab innen Westn!
Die Leute hatten einfach die Schnauze voll, so war das, sagte Susanne zu Georg. Und da war ja immer der Westen, auf den sie schauten, der goldene Westen, wo die goldenen Äpfel von den Bäumen fielen. Bei uns Reparationsleistungen, Demontagen. Was haben die Eisenbahner sich aufgeregt! Und drüben der Marshall-Plan. Die Geschäfte voll. Die Leute fuhren ja rüber, Mensch, mein Bruder in Braunschweich, was der forn Auto hat! Und wir kamen nicht auf einen grünen, geschweige den goldenen Zweig. Die Wut im Bauch, wie es mit denen vorwärtsging und mit uns nicht, war vielleicht das Schlimmste. Denen gehts doch gutt, denen gehts doch gutt! Warum gehts dän gutt und nich uns? Weil wir de Russen ham!! Punkt. Die Ostdeutschen stellten böse fest, sie werden wieder mal beschissen. Bei Adolf war's nichts. Der hat den Krieg gebracht. Nun zum zweiten Mal. Sie haben das damals nicht mal der SED übelgenommen. Was konnten die von der SED denn? Auch so 'n Scheißverein. Ein echter Kommunist war manchen noch mehr wert als jemand, der sein Mäntelchen nach dem Wind hängt. Ulbricht hasste man. Den Spitzbart mit seinem hohen, singenden Sächsisch, ja, Genossen, ja? Über Lotte und Walter machte man grobe, ordinäre Witze. Pieck, den Präsidenten, verachtete man wegen seines dicken Bauchs. Er will einer von uns sein? Aber er ist so voll gefressen wie keiner von uns! Von Konterrevolution hab ich nichts erlebt, sagte Susanne zu Georg. Das Volk war aufgebracht. Es wurde denen gezeigt, dass sie auch nicht alles machen können. Na ja, Georg, alte Geschichten. Ich erzähle Ihnen alte Geschichten und ich hab mir auch selber welche erzählen lassen. Von meiner Tante Else Boehm, der 17 Jahre älteren Schwester meiner Mutter, wie sich am 9. November 1918 in Berlin die roten Matrosen mit den Kaisertreuen schwere Gefechte lieferten und Liebknecht vom Schloss herunter die Republik ausrief. Und wenn Sie mal so alt sind wie ich, dann werden Sie erzählen, wie die Mauer fiel.
Glaube ich nicht.
Und warum nicht?
Hat man sich doch jetzt schon alles an den Fußsohlen abgelaufen. Und sowieso wird Geschichte nur benutzt.
"Die Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen!" Susanne lachte.
Wir haben gelernt, die Justiz sei ein Machtinstrument der herrschenden Klasse, sagte Georg. Die Geschichte wird genauso gedreht, wie man's haben will. Jeder, der Macht hat, nimmt sie und dreht sie zu seinen Gunsten.
Immerhin kann man erzählen, was man erlebt, gesehen hat.
Politik interessiert mich nicht. Lügenmärchen alles.
Dann sind die vom Baron von Münchhausen immer noch die schönsten, nicht wahr, Georg?, versuchte Susanne, Georg aufzuheitern.
"Man sagt, gehängt werden ist gar nicht so unangenehm." - "Das ist schon möglich, aber in dem Punkt war er sehr eigen. Er wollte nicht sterben. Der König ist mir unbegreiflich." - "Ja, das Leben macht keinen Spaß, vor allem, wenn man es verliert."
Die