Der Fluch von Azincourt Gesamtausgabe. Peter Urban
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III
Sidonius hatte entgegen seiner früheren Pläne die kürzeste Strecke von Champtocé nach Concarneau gewählt und nicht die bequeme, gut ausgebaute Straße über Nantes und Vannes genommen. Während er sich in einem höllischen Tempo seinen Weg über Pisten und durch menschenleere Waldgebiete bahnte, die höchstens besonders tollkühne Kriegsleute oder verzweifelte Gesetzlose einschlugen, wenn sie keine andere Möglichkeit mehr hatten ihren Verfolgern zu entkommen, beglückwünschte er sich mit jeder zurückgelegten Leuge dazu, dass er damals in Paris den Mut gefunden hatte ein wirklich ausgezeichnetes Pferd zu stehlen. Das Tier war zäh, ausdauernd und trittsicher, wie ein Maultier und es trug seinen Reiter von Sonnenaufgang bis zum Einbruch der Nacht, ohne sich je zu beklagen.
Der Herzog von Cornouailles war im ersten Augenblick zwar leise verwundert gewesen an einem sonnigen Spätsommermorgen in der Halle seines Palas einen Mann anzutreffen, den er eigentlich wohlversorgt und sicher am Collegium Sorbonianum in Paris geglaubt hatte, aber er zögerte trotzdem nicht, den erschöpften, ungewaschenen und zerrissen wirkenden Sidonius sofort anzuhören. Nachdem der Benediktiner in wenigen, präzisen Worten erläutert hatte, warum er Paris hinter sich gelassen hatte, um alleine und unbewaffnet einen weiten und gefährlichen Ritt durch ein von Krieg zerrissenes Land zu unternehmen, wurde Ambrosius Arzhur mit einem Mal sehr bleich und sehr still. Als er den ersten Schrecken überwunden hatte, rief er nach dem Truchsess.
Sidonius staunte nicht wenig, als er am nächsten Morgen einem Mann vorgestellt wurde, in dem er mühelos den unheimlichen, raubvogelartigen Professor Anselmus von Vannes erkannte, dem er bei der Grablegung von Nicolas Flamel zum ersten Mal begegnet war. Doch Ambrosius Arzhur de Cornouailles gab ihm einen ganz anderen Namen.
Inquisitoren verfolgten Guy de Chaulliac seit ein paar Jahren erbarmungslos, weil er es einmal gewagt hatte, die Kirche direkt herauszufordern und ohne eine erzbischöfliche Genehmigung an der Universität von Montpellier eine öffentliche Autopsie an einem Hingerichteten vorzunehmen. Auch ohne diese Provokation hatte er damals bereits schlechte Karten gehabt: Die Chirurgie wurde nicht als gleichberechtigt mit der Medizin angesehen und Chirurgen galten als unziemlich und unehrenhaft. Außerhalb Italiens konnten Wundärzte nur noch in Montpellier eine eigene Universitätsausbildung genießen. Ansonsten blieb ihnen lediglich, bei einem fahrenden Bader oder Feldscher in die Lehre zu gehen und deren Ruf war für gewöhnlich noch miserabler, als der eines Chirurgen. Als sogenannten Leichenschänder erwartete Chaulliac bereits von weltlicher Seite der Richtblock. Als Mann der Wissenschaften, der öffentlich Thesen vorgetragen hatte, die der kirchlichen Hierarchie verhasst waren, musste er zusätzlich damit rechnen, dass man im Falle seiner Festnahme die Autopsie von Montpellier eilig vergessen würde, um ihm sogleich den Prozess wegen Häresie zu machen, womit Guy der rotglühende Scheiterhaufen gewiss war.
Sidonius konnte nur annehmen, dass Chaulliac selbst an der großen und verhältnismäßig anonymen Pariser Universität am Ende der Boden unter den Füssen zu heiß geworden war. Er hatte verstanden, dass der Mann sich schon verhältnismäßig lange im Fürstentum von Ambrosius Arzhur aufhielt, wo er nicht nur Schutz vor seinen Verfolgern fand, sondern offensichtlich auch die äußerste Wertschätzung und Protektion des Herrschers hatte.
Ambrosius und sein verfemter und etwas unheimlich wirkender Freund hatten am Anfang lange die Köpfe zusammengesteckt und leise miteinander getuschelt. Sidonius fühlte, dass sie in diesen Stunden abgewogen hatte, wie weit man ihn ins Vertrauen ziehen konnte. Inzwischen hatte der junge Benediktiner begriffen, dass er seine Prüfung wohl mit Auszeichnung bestanden hatte: Nicht nur waren einen Tag nach Chaulliacs Ankunft und seinem vertraulichen Gespräch mit dem Herzog bereits Kuriere auf den besten Pferden aus den Ställen von Concarneau in alle vier Himmelsrichtungen losgaloppiert. Auch mehrere schnelle und bis an die Zähne bewaffnete Kriegsschiffe stachen in See. Die Wochen, die auf diese geschäftigen Tage folgten, waren dann allerdings ereignislos und ruhig.
Doch Sidonius genoss eine geradezu seltsam anmutende, großzügige Gastfreundschaft, die so gar nicht seinem Stand entsprach: Bei den gemeinschaftlichen Abendmählern in der großen Halle saß er nicht mit den Dienstboten und Gefolgsleuten, sondern nahm einen Platz neben Guy de Chaulliac an der herzoglichen Tafel ein. Und Ambrosius Arzhur selbst ermutigte ihn dazu, sein Studium, dass er wegen des Diebstahls von Saint Jacques gezwungenermaßen unterbrochen hatte, wieder aufzunehmen. Er hatte ihm ohne zu zögern seine beeindruckende Bibliothek geöffnet, in der sich eine erstaunlich große Sammlung seltener und seltsamer Manuskripte befand. Wenn der junge Mann nicht gerade seinen eigenen Interessen nachhing, wurde er oft in die Frauengemächer gerufen, wo Maeliennyd Glyn Dwyr, Ambrosius’ walisische Gemahlin sich mit einem eigenen, nicht weniger erstaunlichen und seltsamen Hofstaat umgab. Sidonius begegnete dort zwar auch einigen edlen Damen und ein paar jungen Frauen aus den besten Familien von Cornouailles, doch die wichtigste Gruppe bestand aus einem guten Dutzend hochgelehrt wirkender, steinalter Männer und Frauen. Er begriff schnell, dass Maeliennyd Glyn Dwyr den üblichen, höfischen Vergnügungen kaum Aufmerksamkeit schenken mochte und nur ab und an dem Drängen der jüngeren Frauen nachgab, um zur Jagd zu reiten oder Zeit mit irgendwelchen vergnüglichen Spielen oder kurzweiliger Musik und Poesie zu vergeuden. Die Herzogin war eine ernste, streng wirkende Frau, die in ihrer ganzen Art stark an seinen Freund Sévran erinnerte. Sie disputierte mit den alten Männern und Frauen und war offensichtlich in den Wissenschaften genauso bewandert, wie in der Philosophie.
Auf den weichen Seidenkissen und bequemen Lehnstühlen der Kemenate lernte Sidonius in kurzer Zeit mehr über Aristoteles, Platon oder Plinius, als in all den Vorlesungen, die er am Collegium Sorbonianum je besucht hatte. Und er machte überraschende Bekanntschaften mit naturwissenschaftlichen Werken obskurer Gelehrter aus aller Herren Länder, die er an der Universität und während seines Studiums der Theologie und der Philosophie höchstwahrscheinlich niemals anzufassen gewagt hätte. Auch verheimlichten Maeliennyd Glyn Dwyr und ihre Vertrauten ihm – dem Freund ihres jüngsten Sohnes – nicht, dass die sogenannten Ars Notoria am Hof von Cornouailles blühten.
In der Kemenate sprach man genauso über das Auslegen von Träumen, wie auch über Formen der Magie, in denen die geheimnisvollen Kräfte der Natur eine große Rolle spielten und die der junge Benediktiner aus dem Bauch heraus, als dem Reich der Legenden entstammend abgetan hätte, wenn er nicht mit eigenen Augen den Ernst der Debattierenden beobachtet hätte. Intuitiv wusste er, das er es hier mit Angehörigen der geheimnisvollen weißen Bruderschaft von Brocéliande zu tun hatte, zu der auch Sévrans alter Lehrer Aodrén und der Herzog von Cornouailles selbst gehörten.Gewiss, alles war ein bisschen fremd und sonderbar, doch er konnte nicht behaupten, dass diese Gespräche unheimlich waren, oder ihm in irgendeiner Form Angst einflößten, denn er erinnerte sich noch sehr gut daran, wie seine eigene Mutter, als er noch ein Kind gewesen war auf ähnliche Zauberkünste zurückgegriffen hatte, um seine kleinen Krankheiten und Verletzungen zu heilen, oder um dafür zu sorgen, dass der Hausgarten reiche Ernte schenkte und die Kuh immer genügend Milch gab. Und dann war da natürlich auch noch sein Freund Sévran...
Gelegentlich erholte sich Sidonius von der herzoglichen Gastfreundschaft in Gesellschaft seiner Mutter und begleitete sie bei Besuchen von Verwandten, Freunden und Bekannten in der Stadt Concarneau und in der Umgebung. Allerdings fühlte er sich bei diesen geselligen Zusammenkünften nicht immer ganz wohl, denn diejenigen, die sich noch gut an den kleinen Fischerjungen Szenec erinnerten, behandelten ihn in seiner strengen, schwarzen Kutte mit einer verwirrenden Mischung aus Ehrfurcht und Scheu und die anderen beobachteten ihn mit neugierigen Augen, wie ein besonders exotisches und seltenes Tier. In diesen Augenblicken wurde ihm immer bewusst, wie groß die Kluft war, die die Klosterschule von Hennebont und das Collegium Sorbonianum zwischen ihm und seiner Vergangenheit aufgerissen hatte. Daran änderte auch der sichtbare Stolz seiner Mutter über seinen gesellschaftlichen Aufstieg nur wenig.
Sidonius’