Korridorium – letzte Erkenntnisse. Cory d'Or

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Korridorium – letzte Erkenntnisse - Cory d'Or

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Lebewesen haben Ahnen, die ihnen helfen. Auch die Forscher. Nur dass diese sich, ähnlich wie sie ihre unbehaarten Körper mit Fellen und Stoffen vor Auskühlung bewahren müssen, auch alle Ahnungen von sich fernhalten. Wahrscheinlich hat sich ihr Gehirn zu dem Zweck so sehr aufgebläht, dass keiner dieser schwachen Impulse mehr ins empfindsame Innere dringen kann.

      So gehen sie oft und immer wieder in die Irre, bevor sie, wenn sie viel Glück haben, ans Ziel ihrer Wünsche gelangen.

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       15.12.11

      Ich betrete den Korridor. Wieder einmal. Es ist fast, als würde ich es jeden Tag aufs Neue tun und immer wieder denselben Korridor betreten: den zur philosophischen Fakultät. Doch ist das überhaupt möglich? Nein. Es scheint nur so. Das Ich ist nicht mehr das von gestern, und noch weniger das von letztem Jahr. Und auch der Korridor wirkt zwar wie der, den ich kenne und der mir wohlvertraut ist – mitsamt der Schleifspuren, die die metallenen Aktenschränke beim Umzug des Sekretariats auf den Fliesen hinterlassen haben, und einschließlich des schalen Geruchs aus der Zeit, als hier noch das Rauchen erlaubt war –, aber auch er kann gar nicht der von gestern sein.

      Die Täuschung ist perfekt. Ich könnte schwören, dass ich genau diese Schritte hier schon einmal gemacht habe, mir genau diese Gedanken hier schon durch den Kopf gegangen sind. Selbst mit vorgehaltener Pistole könnte man mich nicht dazu zwingen, dies alles neu und unverbraucht wahrzunehmen. Obwohl: unter Lebensgefahr oder in dem Wissen, diesen Korridor zum letzten Mal zu betreten und in wenigen Augenblicken mein Leben zu verlieren, vielleicht ja doch?

      Denn wie heißt es schon von alters her: »Man kann nicht zweimal denselben Korridor betreten. Auch die Seelen steigen gleichsam aus den Korridoren empor.«

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       21.12.11

      Ich betrete den Korridor, der zu einem der Tempel in der Pirámide del Adivino in Uxmal führt. Die Maya waren großartige Baumeister, aber letztlich wurde ihnen ihr Erfolg zum Verhängnis: Eine mehrjährige Dürre zwang ihre stark angewachsene Bevölkerung trotz ausgeklügelter Bewässerungssysteme in die Knie. Sie hinterließen prächtige Bauten und einen komplexen Kalender, der – so meinen manche – das Ende unserer Welt für den 21. Dezember 2012 vorhersagt.

      Eigentlich bekomme ich Panikattacken in engen Fluren und Durchgängen, doch seit ich die Halbinsel Yucatán betreten habe, überfallen mich Erinnerungen an seltsame, langvergangene Ereignisse, kommen mir die Ruinen vor, als würde ich sie in ihrem ursprünglichen Zustand kennen – diese Innenräume hier erzeugen kein Unbehagen bei mir, sondern ziehen mich im Gegenteil wie magisch an.

      Habe ich meine lästige Klaustrophobie verloren, die ich in einer Art Selbstbehandlung mit einem Blog zu bekämpfen versuche? Nein, ein Rest Panik ist noch da. Aber es zeichnet sich eine deutliche Besserung ab, und die Bestrebungen, meine Ängste zu meistern, scheinen schon erste Erfolge zu zeitigen. Ich gebe mir noch genau ein Jahr! Dann wird, beschließe ich spontan noch vor Ort im Tempelkorridor von Uxmal, die Welt enden – zumindest die meines kleinen Therapie-Blogs, das ich an genau diesem Tag rigoros löschen werde als Zeichen dafür, dass ich es jetzt mit den Korridoren in naturam aufnehmen kann, den leibhaftigen aus Stein, Metall, Holz und Glas. Während dann ein ganzes Universum echter Korridore auf mich wartet, wird eine Welt ausgedachter Korridore auf einen Schlag der Vernichtung anheimfallen. Als ob die Maya es vorhergeahnt hätten …

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       11.1.12

      Ich betrete den Korridor. Stationen des Kreuzwegs hängen als Holzschnitzereien zwischen den groben Holztüren. Stumm (natürlich stumm) zeigt der Schweigemönch, der mich führt, auf die Tür, hinter der sich die Zelle befindet, meine neue Heimat für den Rest meiner Tage. Erst jetzt in diesem Moment wird mir im vollen Ausmaß bewusst, dass ich von nun an nie wieder ein Wort sprechen werde, geschweige denn schreiben.

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       12.1.12

      Ich betrete den Korridor. Großformatige Schwarzweißfotos von Nashörnern hängen an den Wänden zwischen den Türen – Schnappschüsse meiner letzten Afrikareise. Einen Augenblick lang bleibe ich unschlüssig stehen. Was wollte ich hier noch? Nun, eigentlich ist es gleichgültig, welche der Türen im Korridor ich wähle oder ob ich überhaupt weitergehe – zumindest für einen Anhänger der Viele-Welten-Theorie wie mich, der davon ausgeht, dass sich durch jede Entscheidung, die getroffen wird, so viele parallele Wirklichkeiten bilden, wie alternative Entscheidungen möglich sind.

      Jetzt weiß ich’s wieder: Ich will in den Rauchsalon – rechte Tür. Aber das gilt nur hier. Ein Alter Ego von mir in einer anderen, ansonsten völlig identischen Welt öffnet jetzt die linke Tür und betritt das Billardzimmer. Eine weitere Version von mir läuft einfach weiter bis zur Tür in den Garten, was ebenso eine neue Welt erschafft, die dieser hier ansonsten bis aufs i-Tüpfelchen gleicht, wie sich auch eine parallele Wirklichkeit von der meinigen abspaltet durch den von uns, der einfach kehrt macht und wieder zurück in die Küche geht, um sich da noch einen zweiten (oder dritten oder vierten …) Magenbitter zu genehmigen.

      Sie verstehen, worauf ich hinauswill?

      Was immer ich mache – letztlich mache ich in Form unzähliger Inkarnationen, die ebenso zahllose Parallelwelten bevölkern, alles. Allein eine banale Handlung wie das Betreten eines Korridors kreiert bereits eine Vielzahl von Welten. Und das ist keine philosophische Spinnerei, sondern schlicht die Konsequenz, die Physiker aus ausgeklügelten Experimenten ziehen.

      Irgendwo im Multiversum hängen in diesem Korridor Farbfotos von Nashörnern. Oder Fotos von Giraffen. Oder von Einhörnern. Oder es sind alte Stummfilmplakate.

      Irgendwo bin ich ein Einbrecher in diesem Korridor. Oder ein Besucher. Der Gerichtsvollzieher. Oder die Putzfrau.

      Irgendwo toben meine Kinder durch die Gänge. Gab es einen Bürgerkrieg, und das Haus ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Liegt alles wie ausgestorben da, weil eine Seuche das Land entvölkert hat. Feiern ich, meine Familie und Freunde ein beschwingtes Fest, weil ab heute auf diesem Planeten endlich kein Mensch mehr hungern muss.

      Schon ziemlich irre, welche Horizonte sich da eröffnen. Leider weiß ich das nur in der Theorie – meinem Gefühl nach leibt und lebt nur eine einzige Ausgabe meiner selbst, nämlich diese hier, und selbst da bin ich mir manchmal nicht ganz sicher. Momentan bin ich nämlich etwas unleidlich wegen meiner Magenverstimmung, und da hilft es mir wenig, zu wissen, dass anderswo – unerreichbar, wenn auch genauso real wie Sie und ich – ein Parallelwelten-Alias von mir verliebt ist, Schmetterlinge im Bauch hat und die ganze Welt umarmen könnte. Um nur eine von vermutlich Myriaden weiterer Realitäten zu nennen …

      Und wenn Sie jetzt glauben, dass es angesichts dieser jede Vorstellung sprengenden Aussichten doch völlig gleichgültig wäre, wie man sich entscheidet oder auch nur, wie man sich fühlt: mitnichten! Das hier ist allein meins, mein ganz eigenes Ding, und kein wie auch immer gestaltetes Ebenbild von mir macht, wo auch immer, exakt diese Erfahrung. Gut, mit einer Magenverstimmung habe ich gerade eine schlechte Karte gezogen. Aber das geht vorbei. Wie steht es mit Ihnen?

      Klar ist, was immer ich schreibe (und was immer Sie gerade lesen oder vorgelesen bekommen): Letztlich schreibe ich in Gestalt einer parallelen

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