Korridorium – letzte Erkenntnisse. Cory d'Or
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Sie können also ganz beruhigt sein: Irgendwo im Multiversum der Quantenphysiker gibt es eine Parallelwelt, in der dieser Text oder eine alternative Les- und Spielart davon tief in Ihrem Inneren etwas anrührt, das Sie dazu inspiriert, diese, diese Welt auf Ihre ganz persönliche Weise gestalten und vielleicht sogar zu einer besseren zu machen.
(Sie können mir glauben oder nicht. Das macht für mich und für Sie keinen Unterschied, denn natürlich trifft letztlich beides zu.)
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25.1.12
Ich betrete den Korridor. Es wird mein letzter Gang sein. Nur kurz werfe ich einen Blick zurück in meine Zelle, zu den Essensresten auf dem Tablett. Der Henker und ein Geistlicher, der nichts Persönliches zu sagen weiß, sondern nur Bibelverse vor sich hin murmelt, begleiten mich. Und meine Engel. Die hellschimmernden Gestalten, die niemand außer mir sehen kann, die mich besuchen kamen nach langen Monaten in der Zelle, mir plötzlich erschienen und mich seitdem nicht mehr verlassen haben. Ich höre das Rauschen ihrer langen, filigranen Flügel und ihr Flüstern. Ihr heiseres, säuselndes Flüstern, von dem ich nie ein Wort verstehen konnte. Obwohl, doch, just in diesem Moment: Hat nicht einer von ihnen direkt in mein Ohr geflüstert? Leise, gehaucht fast, aber doch verständlich? Oder bildet sich mein durch die lange Haft unzuverlässig gewordener Verstand nur ein, etwas gehört zu haben, ein Wort, ein letztes persönliches, das nur mir gilt, eine Botschaft allein für mich: Jetzt!
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27.1.12
Ich betrete den Korridor. Nett, dass Sie mich begleiten. Allerdings frage ich mich, was Sie hier wollen. Was erhoffen Sie sich von diesem Korridor? Dass er Sie wo hinbringt? Dass er Ihnen Türen und Möglichkeiten eröffnet? Neue Ausblicke, Einblicke womöglich? Oder erwarten Sie gar etwas von mir? Dass ich Sie in ungesehene Welten führe und Ihnen Dinge offenbare, geheime, numinose, unsagbare Dinge – mit der wohligen Vorfreude auf Nervenkitzel und einem ehrfürchtigen Schaudern angesichts des Unglaublichen?
Gut. In dem Fall möchte ich Sie nicht länger aufhalten. Ich mache gerne kehrt und gehe meiner eigenen Wege. Nur zu, keine Scheu: Betreten Sie den Korridor.
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30.1.12
Ich betrete den Korridor. Er ist breit und kurz, und an seinem Ende befinden sich zwei Türen. Die linke trägt die Aufschrift »Der leichte Weg«, die rechte die Aufschrift »Der schwere Weg«. ›Ha!‹, denke ich. ›Mich könnt ihr nicht schrecken!‹ Ich greife an mein Schwert. Mit meiner Ausrüstung, dem Training, mit dem unbeugsamen Willen: Was soll mich da schon aufhalten können? Ich lege die Hand auf die Klinke der rechten Tür. Bin ich nicht stärker als die, die schneller sind, schneller als die, die klüger und klüger als die, die stärker sind als ich? Die Tür steht bereits einen Spalt weit offen. Doch dann kommt mir unvermittelt ein ungeheurer Gedanke in den Sinn, eine Frage, die alles in Frage stellt: Wem eigentlich muss ich etwas beweisen?
Es ist die Entscheidung eines Augenblicks, und doch gibt es kein Zögern: Ich nehme die linke Tür. Bevor ich erkennen kann, was mich dahinter erwartet, erwache ich in meinem Schlafsack – und bin einige Augenblicke lang ein wenig orientierungslos, denn hier, mitten in der Wildnis auf dem Appalachen-Trail, gibt es weit und breit keine Korridore und Türen. Es war ein Traum! Ein guter Traum. Irgendwie habe ich das Gefühl, eine wichtige, lebenswichtige Entscheidung getroffen zu haben. Ich bin stolz auf mich, öffne das Zelt, genieße die schneidend kalte Morgenluft in meinen Lungen und mache mich ans Frühstück.
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4.2.12
Ich betrete den Korridor, oder besser gesagt: Ich schwebe hinein, noch etwas ungelenk mit den Flügeln schlagend. Der Korridor ist rund wie ein Bohrloch. Türen kann ich nicht erkennen. Am Ende erwartet mich ein überirdisches Strahlen, das mich mit tiefer, süßer Sehnsucht erfüllt. Ich flattere und versuche, schneller voranzukommen. Wabernde Umrisse in dem Leuchten vor mir lassen mich an Freunde und Geliebte denken, die ich schon lange vergessen habe. Ich eile voran. Obwohl: Sollte ich nicht noch einmal zurückblicken? Habe ich vielleicht etwas unerledigt zurückgelassen?
Oh, und ob!
Idreana!
Noch habe ich sie – in all den Korridoren, hinter den zahllosen Türen – nicht wiedergefunden! Ich wende mich um, auch wenn es schwerfällt, zurück zum Anfang des Tunnels. Das verführerisch schimmernde Licht hinter mir wird schwächer, und ich kann die Enttäuschung der dort auf mich Wartenden spüren.
Es tut mir leid.
Aber ich habe ihr mein Wort gegeben!
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5.2.12
Ich betrete den Korridor seines Hausboots und finde meinen Freund Norbu wie erwartet auf der kleinen Terrasse, wo er sich über das Notebook auf seinem Schoß beugt.
»Wikipedia!«, stöhnt er, und es hört sich an wie ein unterdrückter Fluch. Ich mache uns den mitgebrachten Wein auf. Wo ich die Gläser finde, weiß ich ja.
»Wenn es an die Grenzen geht, sind das alles fürchterliche Ideologen.« – »Welche Grenzen?«, frage ich.
»Na, die der Wissenschaft.« Hier zum Beispiel, der Eintrag über Frederic Myers.« Er weist auf den Text auf seinem Display, aber ohne Brille erkenne ich nur unscharf das Logo und ein Foto. »Myers war einer der Gründer und später Präsident der Society for Psychical Research, die sich mit spiritistischen Themen beschäftigte. Von ihm stammt der Ausdruck ›Telepathie‹.« – »Nie gehört«, sage ich, und füge schnell an: »Von dem Mann, meine ich.«
»Aber die Wikipedia-Editoren«, fährt er ungerührt fort, »unterschlagen seinen wichtigsten Beitrag.« – »Na ja«, wage ich einzuwenden, »Spiritismus und Telepathie, das sind nicht gerade Wikipedia-Themen.« Norbu sieht mich kopfschüttelnd an. »Müssen Sie aber sein. Ein Lexikon kann doch nicht einen Teil der Wirklichkeit ausblenden, nur weil er den Herausgebern und Autoren nicht gefällt.«
Ich stoße mit ihm an, um ein wenig Zeit zu gewinnen. »Sind es nicht ganz unterschiedliche Autoren? Ich meine: Nicht zuletzt bist ja auch du mit dabei.« Norbu lacht gequält auf. »Sicher. Aber es gibt da die Entscheider, eine Art Priesterkaste, und bis da rauf haben’s meist die Ideologen geschafft, die dann mit fadenscheinigen Begründungen und teilweise kriegerischen Maßnahmen rauskürzen, was ihnen nicht in den Kram passt.« Ich nicke, um Verständnis zu bekunden: »Wie Telepathie.« – »Und alles, was sich dem szientistischen Credo entzieht.« Wissenschaftliches Glaubensbekenntnis? Ich lasse Norbu diesen Widerspruch mal durchgehen und erinnere ihn mit einem Fingerzeig an den alten bärtigen Mann auf seinem Display, der mich aus tiefer Schwärze heraus anblickt.
»Nach seinem Tod«, erklärt mir mein Freund Norbu, »empfingen Medien aus aller Welt beim Automatischen Schreiben eigenartige Durchgaben, von denen viele mit ›Myers‹ unterzeichnet waren.« – »Du meinst, er meldete sich aus dem, äh, Totenreich?«