Im Schatten des Todes. Aris Winter
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Sein Durst war immer noch nicht gestillt, doch er hatte keine weitere Flasche Eistee in der Wohnung. Wohl oder übel musste er das Haus verlassen, um sich im gegenüberliegenden Supermarkt eine Neue zu kaufen. Er warf einen kurzen Blick auf seine silberne Armbanduhr, die er von seiner Frau zur Verlobung geschenkt bekommen hatte. Noch zwanzig Minuten bis Ladenschluss. Danach gäbe es nur noch Wasser aus dem Hahn und darauf hatte er keine Lust, obwohl es weitaus gesünder gewesen wäre. Gedanklich sah er erneut seinen Kollegen Matt vor sich, der seit ein paar Jahren ausschliesslich Wasser trank. Immer wenn er bei ihm zu Besuch war und dort übernachtete musste er sich überwinden, das öde, bittere Wasser aus dem Hahn zu trinken. Nicht selten erwachte er mitten in der Nacht auf dessen Couch und verspürte die unbändige Lust nach einem Süssgetränk. Doch er wusste sofort, dass es bei Matt bloss Wasser gab.
Liam band sich den Schal um den Hals, streifte sich die Jacke über und zog sich die Schuhe an. Mit einem kurzen Griff an die hintere Hosentasche versicherte er sich, dass er seine Geldbörse eingesteckt hatte. Nicht selten kam es vor, dass er erst an der Kasse bemerkte, dass seine Geldbörse zu Hause lag. Eine unglaublich peinliche Situation. Der Supermarkt befand sich nur wenige Gehminuten von seiner Wohnung entfernt, auf der anderen Strassenseite. Über dem Supermarkt gab es moderne, grosse und helle Eigentumswohnungen, die sich parallel der Strasse entlang zogen. Die Hälfte der Wohnungen standen jedoch leer, da die Mieten in den letzten Jahren ins Unermessliche gestiegen waren. Eine Familie mit Kindern konnte sich diese Preise nicht mehr leisten. Stattdessen zogen sie in Altbauwohnungen, in ländliche Gegenden oder bauten sich gleich selbst ein Haus nach ihren Wünschen und Bedürfnissen. Liam hörte es von seinen Arbeitskollegen aus dem Immobiliensektor, die täglich damit rechneten, dass es bald zum gefürchteten Platzen der Immobilienblase käme. Einige von ihnen rieben sich bereits aufgeregt die Hände, in der Hoffnung auf einen günstigeren Mietzins. Doch die Preise waren noch immer im unermüdlichen Steigflug.
Draussen prasselte ihm der kalte Regen ins Gesicht. Der Wind blies ihm um die Ohren und er zog den Kragen seiner Jacke schützend über das Halstuch. Die Böen waren teilweise so stark, dass er wie ein Betrunkener über den Bürgersteig torkelte. Niemand kam ihm entgegen. Der Bürgersteig schien wie ausgestorben. Unter dem runden Vordach des Eingangs zum Hotel stand eine kleine Gruppe von Hotelgästen, die eine Zigarette rauchten und das stürmische Wetter beobachteten. Ein leerer Reisebus stand auf dem Parkplatz vor dem Hoteleingang und schaukelte im Wind leicht hin und her.
Der Supermarkt war klein und überschaubar. Die Lebensmittel waren hier deutlich günstiger als in den üblichen, grösseren Supermärkten, da die Produkte vorwiegend aus dem nahen Ausland importiert wurden. Er ging durch die Schiebetüre und warf einen Blick durch die leeren Gänge. Es gab kaum noch Kunden. Die Regale sahen aus als wären sie soeben geplündert worden. Einige Mitarbeiter waren bereits mit dem Aufräumen beschäftigt und stapelten reihenweise Kisten aufeinander. Eine vorbeigehende Mitarbeiterin musterte ihn auffällig, als wäre sie überrascht, dass es noch Kunden gab. In den Fruchtkörben lag ein letzter Haufen verfaulter Früchte. Als er daran vorbei ging flogen ihm ein paar Fruchtfliegen entgegen. Er fuchtelte mit den Händen wild vor seinem Gesicht herum. In den Brotkörben herrschte gähnende Leere. Die letzten Brote vom Morgen wurden in einem separaten Korb vor der Kasse zum halben Preis verkauft. Eine letzte Flasche Eistee stand auf einem einsamen Palette, so als ob sie nur auf ihn gewartet hätte. Mit der Flasche in der Hand ging er zur Kasse und schaute einer müde dreinblickenden Kassiererin in die Augen, die nur darauf wartete, endlich Feierabend zu machen. Versehentlich tippte sie die Flasche zweimal und entschuldigte sich gleichgültig dafür. Er drückte ihr das Geld in die Hand und machte sich auf den kurzen Rückweg. Neben dem Supermarkt befand sich eine Apotheke, die bereits geschlossen hatte. Er warf einen Blick in das schwach beleuchtete Schaufenster. Diverse Pflegeprodukte standen in einem Regal, bereit für die nächsten Kunden. Danach überquerte er den Zebrastreifen, der im schwachen Licht der Strassenlaterne, die noch immer heftig flackerte, kaum sichtbar war. Nachdem er die Strasse überquert hatte, welche sich zwischen seiner Wohnung und dem Supermarkt entlang zog, hörte er auf einmal schnelle Schritte hinter sich. Er beschleunigte seinen Gang, da ihm der Regen nach wie vor ins Gesicht prasselte. Die Schritte hinter ihm wurden ebenfalls schneller. Er vermutete, dass es die Schritte eines Kindes waren, das beinahe rannte. Doch da waren noch weitere Schritte im Hintergrund. Durch die rauschenden Geräusche der Umgebung konnte er nicht eindeutig sagen, wieviele es waren. Dann hörte er eine ihm bekannte Stimme über dem Rauschen des Windes und den vorbeifahrenden Autos.
“Papa, warte”. Er drehte sich nicht um und wollte zum Hauseingang gelangen, der nur noch wenige Meter von ihm entfernt war. Das Gemisch aus Regen und Kälte wurde unerträglich und seine Jacke war bereits durchnässt. Er hörte eine zweite Stimme. Eine weibliche Stimme. Sie war ihm ebenfalls bekannt. Doch sie rief nicht nach ihm, sondern nach ihrem Sohn. Er konnte die Worte, die sie sagte, nicht verstehen. Es war bloss ein undeutliches Gemurmel. Kurz vor dem Hauseingang griff er in seine Jackentasche und zog den Schlüssel hervor. Er erreichte die Überdachung des Hauseinganges, steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Türe zum Treppenhaus. Nun drehte er sich um und erblickte seinen dreijährigen Sohn, gefolgt von seiner Frau. Bevor er etwas sagen konnte drückte sie ihn ins Innere des Treppenhauses und schloss die Türe hinter sich zu.
Die Entführung
Liam hatte noch nie zuvor einen solch panischen Gesichtsausdruck gesehen, wie ihn seine Frau in jenem Moment aufgesetzt hatte. Lena war eine starke Persönlichkeit. Sie wusste was sie wollte und sie liess sich kaum einschüchtern. Auch wenn sie einen Kopf kleiner war als Liam konnte sie ihn mit Karate locker zu Boden ringen. Sie lernte diese Kampfsportart in ihrer Jugendzeit von ihrem Vater, der inzwischen den schwarzen Gürtel besass. Er wollte ihr beibringen, wie sie sich gegen körperliche Angriffe zur Wehr setzen konnte. Es war eine Zeit, in welcher es in den Nachtclubs häufig zu Schlägereien und sexuellen Übergriffen kam. Manchmal setzte sie es auch spasseshalber gegen Liam ein, der nach kürzester Zeit mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden lag. Nicht selten traf sie ihn ungewollt in seine Weichteile, was zu üblen Unterleibsschmerzen führte.
Doch nun sah es nicht so aus als mache sie Witze und er wusste, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
“Was ist passiert?”, fragte er eifrig, nachdem er beinahe rückwärts über die erste Stufe der Treppe gestolpert war. Lena kam näher und umarmte ihn ungefragt.
“Wir brauchen deine Hilfe”, sagte sie verzweifelt. Liam war überrascht. Er hatte ihre Umarmung nicht erwidert, sondern stand wie ein Fels im Treppenhaus, die Arme an die Seite seines Körpers gedrückt und den Kopf leicht zur Seite gedreht, wo er seinen Sohn erblickte, der ihn unentwegt anstarrte. Bisher suchte sie bei Problemen jeweils die Hilfe der Familie. Ihr Vater war Gefängnispsychiater für Schwerverbrecher, Menschen mit gespaltenen Persönlichkeiten und Suchtpatienten. Ihre Mutter arbeitete als Krankenschwester im Universitätsspital. Er jedoch war nur ein kaltherziger, egoistischer und verschuldeter Banker. Zumindest wenn man Lenas Worten Glauben schenken wollte. Ihre Eltern wohnten bloss einen Steinwurf von seiner Wohnung entfernt. In einem schönen, grossen Einfamilienhaus. Trotzdem stand sie mit ihrem gemeinsamen Sohn Bernard nun in seinem Treppenhaus. Zusammen fuhren sie mit dem engen Fahrstuhl ins vierte Stockwerk und betraten die Wohnung. Seit der Trennung hatte er seinen Haushalt etwas vernachlässigt, doch Lena schien sich daran nicht zu stören. Sie sah aus, als wäre sie erleichtert darüber, wieder in der ehemaligen Wohnung zu sein. Bernard, der seinen Vater bisher an jedem zweiten Wochenende besucht hatte, zog wortlos seine Jacke aus und hängte sie an den Haken, den ihm Liam auf dessen Höhe an die Wand geschraubt hatte. Danach zog er sich die Schuhe aus, stellte sie auf das Schuhmöbel im Flur, holte seine Spielkiste aus dem Spielzimmer und verzog sich damit in sein Kinderzimmer. Liam schaute ihm misstrauisch hinterher während er ein paar schmutzige Klamotten vom Fussboden aufhob. Er merkte sofort, dass Bernard unter einem gewissen Umstand litt, doch er konnte die Situation noch nicht richtig einschätzen. Bernard