Der rote Feuerstein. Kim Scheider

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Der rote Feuerstein - Kim Scheider

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doch heute kam er ihm vor wie eine unüberwindbare, niemals enden wollende Strecke.

      Vom Friedhof aus, der eher eine Gedenkstätte für die zahlreichen namenlosen Ertrunkenen der Nordsee war als ein Friedhof im eigentlichen Sinne, war er auf kürzestem Wege durch die Dünen gerannt, vorbei am Spielplatz und dem neu errichteten Bungalowdorf, immer weiter Richtung Anleger. Endlich kam der Hafen in Sicht und, wie hätte es auch anders sein sollen - die Dünenfähre hatte natürlich gerade abgelegt. Für die nächste halbe Stunde würde er erst mal festsitzen.

      „Mist! Verdammter Mist!“, fluchte er vor sich hin.

      Er wollte nur noch weg von der Düne, rüber zur knapp zwei Kilometer entfernten Hauptinsel, wo seine Eltern sicher schon auf ihn warteten und ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen würden.

      Keuchend setzte er sich hin, mitten auf den Anlegesteg und versuchte das Chaos in seinem Kopf zu sortieren. Das konnte einfach nicht wahr sein, was ihm da Minuten vorher passiert war.

      Aber sie war da gewesen, hatte sogar mit ihm gesprochen.

      „Hallo! Ich bin Vicki und wer bist du?“, hatte sie ihn gefragt. War dabei aufgeregt mit den Flügeln schlagend vor ihm hin und her geflogen und hatte ihm dann die verrückteste Geschichte erzählt, die er jemals gehört hatte.

      Sprachlos hatte er das kleine flatternde Wesen angestarrt, das da unter der alten Schiffsglocke auf dem Friedhof hervor geschossen kam und ihn einfach angesprochen hatte. Nicht nur, dass es sie eigentlich gar nicht hätte geben dürfen, nein, sie sprach auch noch zu ihm!

      Ich hätte gestern doch nicht von Mutterns Eiergrog probieren dürfen, dachte Paul und konnte noch immer nicht fassen, was er da sah. Er hatte zwar nur ein mal an dem, wie der Name schon sagt, vorwiegend aus Grog und Eiern bestehenden „Nationalgetränk“ der Helgoländer genippt, aber anscheinend hatte dies bereits eine durchschlagende Wirkung!

      „Hallo, redest du nicht mit jedem?”, fragte ihn die Fee - oder war es eine Elfe? „Ich versuch’s noch mal”, sagte sie mit einem frechen Grinsen im Gesicht. „Ich bin Vicki und wer bist du?”

      „Ich... Paul ... Das gibt’s doch nicht! Ich, ich bin Paul”, stammelte er vor sich hin.

      „So - ein Junge bist du? Ich dachte, du wärst ein Mädchen. Wegen den langen Haaren und so.” Keck lächelte sie ihn an.

      Schon wieder dieser Spruch! Wie oft hatte er ihn schon in unzähligen Variationen zu hören bekommen?

      „Umso besser”, hatte sie dann gemeint. „Jungen sind angeblich mutiger, soweit ich in Erinnerung habe. Auch wenn du mir nicht gerade diesen Eindruck machst.”

      Nach wie vor sprachlos und auch ein wenig beleidigt hatte Paul den Flug des kleinen Wesens verfolgt, das ununterbrochen vor seinem Kopf hin und her flog. Vielleicht war es auch ein Insekt? Dagegen sprachen allerdings das rosa Kleid, das im Wind vor seiner Nase flatterte und die lange blonde Powermähne, die ihn beim Vorbeifliegen jetzt schon mehrmals an der Nase gekitzelt hatte.

      „Was willst du von mir?”

      Nur mühsam hatte er die Worte hervor gebracht. Eigentlich hatte er fragen wollen, wo sie herkäme - denn eine Sie war es eindeutig -, wieso es sie gab, warum er sie verstehen konnte und überhaupt. Aber da sein Verstand sich nach wie vor weigerte zu glauben, was sich gerade abspielte, war ihm keine bessere Frage über die Lippen gekommen.

      Das muss ein Scherz sein. Oder ein Trick. Oder was auch immer, hatte Paul gedacht und noch einmal gefragt: „Was willst du von mir?”

      „Deine Hilfe!”, sagte Vicki frei heraus.

      Und dann hatte sie ihm ihre schier unglaubliche Geschichte erzählt.

      Prinzessin Vicki XII.

      „Setz dich und hör einfach nur zu”, hatte sie den etwas verstörten Jungen aufgefordert, der sich unbeholfen auf einer der Bänke neben ihr nieder ließ.

      Sie berichtete ihm von längst vergangenen Zeiten, in denen sie, doch eine Fee, wie sie inzwischen klargestellt hatte, unbeschwert zwischen zwei Welten pendelte; der Insel Helgoland und - und das war das Unglaubliche an ihrer Geschichte - der Insel Atlantis .

      Ja, nee, is’ klar, dachte Paul und wollte schon wieder aufstehen und gehen. Der Zwölfjährige war durch und durch Realist. Er las zwar gerne Fantasieromane, aber nur, weil er die Vorstellung von solchen Welten spannend fand. An Fabelwesen oder Engel und übersinnliche Fähigkeiten glaubte er in keiner Weise. Garantiert gab es eine ganz logische Erklärung für derartige Phänomene.

      Ja, so musste es sein!

      Andererseits flog diese kleine Fee hier vor ihm herum, ließ sich sogar gerade auf seinem Knie nieder und redete mit ihm. Warum also nicht auch Atlantis?

      Sicherheitshalber kniff Paul sich an verschiedenen Stellen kräftig ins eigene Fleisch, aber da es doch mächtig weh tat, musste er wohl davon ausgehen, sich nicht etwa in einem Traum zu befinden, sondern tatsächlich im Hier und Jetzt. Aber alles wurde nur noch viel unglaublicher.

      Von einem geheimen Zugang im Inneren des Felsens berichtete die Fee ihm, von Piraten, Vampiren, Göttern und Prinzessinnen, von Magiern und weiteren Fabelwesen und davon, wie sie vor nahezu genau sechzig Jahren auf einmal im Felsinneren gefangen war und nicht mehr zurück nach Atlantis kam, weil die große Explosion ihr den Rückweg versperrt hatte.

      Natürlich hatte Paul bei den vielen Besuchen auf der Insel Helgoland auch vom „Big Bang” gehört. Jener Explosion, die man nach dem Krieg auf dem evakuierten Felsen ausgelöst hatten, um die militärischen Anlagen dort zu vernichten.

      Große Teile des gerade mal knapp einen Quadratkilometer großen Eilandes waren dabei zerstört worden und nur der eiserne Wille der Helgoländer und einiger Friedensaktivisten hatten es ermöglicht, dass Helgoland überhaupt wieder besiedelt werden konnte. Mehrmals hatte Paul auch mit seinen Eltern an einer Bunkerführung teilgenommen, bei denen einem ein Fremdenführer die Vergangenheit der Insel während eines Marsches durch die wenigen erhaltenen Stollen näher gebracht hatte.

      Auch die Legenden, die teilweise heute noch verbreitet wurden, Atlantis sei einst in Sichtweite von Helgoland untergegangen, hatte er gehört und - natürlich - als Märchen abgetan.

      Und nun saß hier eine kleine geflügelte Fee auf seinem Knie, lächelte ihn nach wie vor freudig an und erweckte alte Sagen zum Leben. Für den Jungen brach ein Weltbild zusammen.

      Nach dem langen Aufenthalt fern ihrer magischen Heimat sei sie, Prinzessin Vicki XII., nun ihrer Zauberkraft beraubt.

      Natürlich, eine zaubernde Prinzessin war sie selbstverständlich auch noch! Und benötige ausgerechnet seine Hilfe, um den geheimen Zugang nach Atlantis wieder zu öffnen.

      Paul betrachtete das seltsame Wesen, das unermüdlich freundlich lächelte, genauer. Die Fee hatte ein sehr hübsches, wenn auch puppenhaftes Gesicht und so ziemlich alles an ihr, einschließlich der zarten Flügel auf ihrem Rücken, war rosa, wenn auch in unterschiedlichen Abstufungen. Ein feines, unaufdringliches Leuchten umgab ihren winzigen Körper, was ihr zusätzlich einen geheimnisvollen Anstrich verlieh. Die Nachbarstochter wäre sicher entzückt gewesen. Paul hingegen war zunächst einmal schockiert, einem Fabelwesen wie ihr tatsächlich zu begegnen, das obendrein auch noch etwas von ihm wollte.

      „Warum?

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