Der rote Feuerstein. Kim Scheider

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Der rote Feuerstein - Kim Scheider

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einen möglichst gesunden Eindruck zu machen.

      Eine halbe Stunde später saßen alle drei gesättigt und zufrieden im Wohnzimmer, und während seine Eltern die Nachrichten sahen, schaute Paul noch einmal verstohlen aus dem Fenster. Mittlerweile war es allerdings so dunkel geworden, dass er selbst eine ganze Armee von den monströsen Rochusmenschen nicht mehr hätte erkennen können. Daher entschied er, sich erst einmal seiner Lektüre aus der Bücherei zu widmen, schnappte sich das erstbeste Buch und begann eifrig zu blättern.

      Doch es dauerte nicht lange, da musste er feststellen, dass zwar scheinbar jeder Schriftsteller, der etwas auf sich hielt, seine Theorie zum Thema auf Papier gebracht hatte, doch der Inhalt war eigentlich immer das Gleiche: Wiege der Menschheit, Basis für Außerirdische und deren Experimente, mythischer Ort, usw. Nichts Neues jedenfalls. Einer hatte sogar versucht, gleich alle Theorien miteinander zu verknüpfen, aber Paul merkte schnell, dass einer nur beim anderen abgeschrieben zu haben schien. Am glaubwürdigsten erschien ihm da fast noch eine These, die Wissenschaftler seit einiger Zeit verfolgten und die besagte, Atlantis könne auch ein Synonym für Troja sein.

      Das brachte ihn jedenfalls alles nicht weiter. Nichts von dem erklärte, warum hier auf einmal Feen und Dämonen auftauchten. Ärgerlich pfefferte er das Buch zurück neben den Stapel und griff nach dem nächsten. Darin ging es zwar nicht konkret um Helgoland, sondern eigentlich um die germanische Mythologie, aber der Name Fosite sagte ihm als Helgolandexperten natürlich etwas und so blätterte er interessiert darin herum.

      Fosite war den germanischen Sagen zufolge ein friesischer Friedensgott, den die Helgoländer bis zur Einführung des christlichen Glaubens lange Zeit verehrten. Nicht umsonst las man in alten Schriften über die Insel auch von Fositesland und Heiligland, bevor der Name Helgoland überhaupt auftaucht.

      Fosite, der Enkel des Göttervaters Odin, hielt sich demnach oft auf dem roten Felsen auf, wenn er auf Erden wandelte. Ja, er hatte die Insel sogar erst rot gefärbt, so dass es an seine Heimstatt Glanzheim im Himmel, der Asgard genannt wurde, erinnern sollte. Laut Pauls Lektüre ging sogar die Sage um, Fosite habe auch die vielen Vögel erschaffen, die man noch heute auf Helgoland beobachten konnte.

      Auch von den anderen Göttern war dort Interessantes zu lesen. Von der ewigen Feindschaft Odins mit dem listenreichen Loki, durch dessen Intrigen es letztlich zur sogenannten Götterdämmerung, dem alles umfassenden Weltenbrand gekommen sei. Loki, der mit der Riesin Angurboda drei Kinder gezeugt haben soll, war demnach die Totengöttin Hel, die Mitgardschlange und der Wolf Fenrir zu verdanken, die bis in heutige Zeit in vielen Geschichten auftauchen. Nur Atlantis tauchte in diesem Buch gar nicht auf.

      Noch einmal glitt Pauls Blick über das reich bestückte Bücherregal des Appartements. Im ersten Moment dachte er, seine Augen würden ihm einen Streich spielen. Nachdem er so viel über die sagenhafte Insel gelesen hatte, sah er überall nur noch diesen Begriff vor Augen: „Atlantis!"

      Aber das kleine blaue Bändchen, das da zwischen den Büchern steckte, trug tatsächlich den Titel „Atlantis’ Untergang - Der griechische Philosoph Plato und Nordfriesland."

      Rasch zog er das nur wenige Seiten umfassende Heft hervor und begann zu lesen. Das war genau das, wonach er gesucht hatte. Da stapelten sich hunderte Seiten dicke Bücher, die ihm nicht hatten helfen können und jetzt lag die Antwort auf seine Fragen womöglich in diesem unscheinbaren Büchlein.

      Es handelte von dem griechischen Philosophen Plato und seiner Theorie, nach der die Insel infolge einer Naturkatastrophe binnen einer Nacht im Meer versunken sei und der Ansicht anderer Denker, Plato habe Atlantis als Bild für eine fiktive, seiner Meinung nach perfekte Gesellschaft genutzt, die später einfach als Tatsache ausgelegt wurde.

      Außerdem listete der Autor, ein gewisser Albert Panten, zahlreiche Beweise auf, warum Atlantis, wenn es denn tatsächlich existiert habe, ganz bestimmt nicht in der Nordsee - und damit in der Nähe Helgolands gelegen habe.

      Das war nun nicht das, was Paul sich von der Lektüre dieses viel versprechenden Heftchens erhofft hatte!

      Auch „Atlantis’ Untergang” landete, etwas unvorsichtiger, als es sonst Pauls Art war, auf dem Bücherturm. Er beschloss, dass es für’s Erste genug wäre und stellte fest, dass das Papiergeraschel offenbar eine einschläfernde Wirkung auf seine Eltern gehabt haben musste. Seine Mutter lag friedlich schlummernd auf dem Sofa und sein Vater schnarchte ausgiebigst im Sessel.

      Tja, Seeluft macht eben müde, dachte er und musste selber herzhaft gähnen. Du meine Güte, schon halb zwölf?

      Erschrocken blickte Paul auf die Uhr. Die letzten Stunden waren einfach nur verflogen, während er in den Wälzern gestöbert hatte.

      Vorsichtig legte er das Buch, das seiner Mutter aus der Hand gefallen war, - natürlich ein Buch über Helgoland -, auf den Tisch und pustete die Kerzen aus. Auf Zehenspitzen schlich er sich aus dem Zimmer und legte sich in sein Bett. Er starrte die Decke über sich an und ließ noch einmal den Tag Revue passieren.

       Kaum bin ich mal alleine unterwegs ...

      Dann war er auch schon eingeschlafen.

      Die Sonne schien, die Möwen und Basstölpel schrien aufgeregt durcheinander und Paul saß auf einer Bank am Lummenfelsen, der Hauptbrutstätte für die vielen Vögel, die Helgoland während der Brutzeit bevölkerten. Er war gerade an der “Langen Anna” vorbei gekommen, dem letzten freistehenden Felsturm und Wahrzeichen der Insel, war Frau Piel, der geklonten Frau, ungefähr zum hundertsten Mal an diesem Tag begegnet und gönnte sich nun erstmal eine kleine Pause.

      Konnte es etwas Schöneres geben als hier oben zu sitzen, auf dem knapp 60 Meter hohen roten Felsen? Egal, in welche Richtung man sah, nur die endlose Weite der Nordsee vor Augen und die herrliche Stille der autofreien Insel genießend? Nur die Westküste bei Sturm war schöner. Diese Liebe hatte er eindeutig schon von seinen Eltern mit in die Wiege gelegt bekommen.

      In meinem nächsten Leben werde ich ein Baßtölpel, beschloss Paul, als er den eleganten Flug der hübschen Vögel mit dem gelb gefiederten Kopf beobachtete.

      Langsam stand er auf, streckte sich kräftig und beschloss zur Wohnung zurück zu gehen, bevor die ganzen Tagesgäste und Schnäppchenjäger die Insel um die Mittagszeit wieder überrennen würden. Da hielt man es als Dauergast ähnlich wie die Insulaner. Wenn die Schiffe mit den Tagestouristen kamen, verzog sich jeder, der die Möglichkeit dazu hatte, nach Hause oder auf die Düne. Nach ein paar Stunden hatte man die Insel wieder für sich.

      Es war das erste Mal, dass sie das Eiland um diese Jahreszeit besuchten, aber der Winter, mit seinen Stürmen und meterhohen Wellen war ihnen immer am liebsten gewesen. Selbst seiner Mutter, die das Schiff nach der Überfahrt vom Festland immer mehr tot als lebendig verließ.

      „Das nehme ich gerne in Kauf”, pflegte sie dann immer zu sagen und verschwand wieder auf der Toilette.

      Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen und er unwillkürlich etwas grinsen musste, machte er sich auf den Heimweg.

      Nach ein paar Metern flatterte ihm ein rosa schillernder Falter um die Ohren.

      Ein verdammt hartnäckiger Falter.

      Der gar kein Falter war, sondern eine kleine geflügelte Fee mit langen, blonden Haaren, einem puppenhaften, schönen Gesicht und dem merkwürdigen Namen Prinzessin Vicki XII.!

      Wie angewurzelt blieb Paul stehen, als er dies feststellte.

      „Hilf mir! Bitte hilf mir!”, piepste das zarte Stimmchen.

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