Der rote Feuerstein. Kim Scheider

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Der rote Feuerstein - Kim Scheider

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      Und doch war ihm alles so echt vorgekommen.

      Was, wenn...?

      „Aber nein, Feierabend jetzt!", ermahnte Paul sich selber. „Schluss mit dem Theater! Ich fahre jetzt rüber, esse was und dann wird sich schon alles aufklären!"

      Er bestieg die Dünenfähre und stellte fest, dass zumindest die Schmerzen in seinen Oberschenkeln Realität waren. Gerannt war er also tatsächlich.

      Kaum hatte das kleine Boot abgelegt, wanderte seine Hand doch wieder in Richtung Kette und er befühlte noch einmal den Stein. Er fühlte sich ganz warm an, als sei er durch die Begegnung mit der Fee irgendwie „aktiviert” worden. Auch ein ganz leichter, fließender Schimmer schien von dem Material auszugehen. Dem Leuchten der kleinen Fee nicht unähnlich...

      „Schluss jetzt mit dem Theater”, rief Paul noch einmal, als könne er so die unerwünschten Gedanken verscheuchen. „Ich habe einfach zu viele Geschichten gelesen!”

      Da er der einzige Fahrgast war und der Motor des kleinen Bootes kräftig röhrte, bemerkte niemand sein Selbstgespräch.

      Aber trotz der Absicht, das Ganze einfach zu vergessen, nahm er sich gleich erstmal vor, sich mit entsprechender Lektüre über Atlantis einzudecken.

      Rein interesse halber selbstverständlich.

      Ein wenig zögernd betrat Paul kurz darauf das Ferienappartement. Er stellte sich mit trotziger Miene vor den Garderobenspiegel, als wolle er klarstellen, dass er das sehen möchte, was er morgens noch gesehen hatte: einen mittelgroßen, sportlichen Zwölfjährigen mit sehr langen, blonden Haaren, die ihm nicht erst heute Spott und Hohn eingebracht hatten. Aber daran war er gewöhnt. Er trug die Haare so seit seinem fünften Lebensjahr und sie gehörten einfach zu ihm, wie seine braunen Augen und die Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen.

      Freundlicherweise zeigte ihm der Spiegel auch all dies. Er war weder um Jahre gealtert, noch rollten seine Augen wie im Wahn umher, wie er insgeheim befürchtet hatte. Nein, er war immer noch er, ganz so, wie er sein sollte, nur ein wenig blass um die Nase vielleicht, was ihm jedoch in Anbetracht der Umstände auch vollkommen gerechtfertigt erschien.

      Er atmete noch einmal tief durch, dann betrat er die angrenzende Wohnküche, in der er seine Eltern vermutete. Paul nannte sie immer Ältern, um sie zu ärgern, aber mittlerweile war das mehr schon eine lieb gewonnene Angewohnheit als ein Ärgernis. Doch als er den Raum betrat, stellte er fest, dass seine Mutter alleine war. Sie begrüßte ihn lächelnd und natürlich, wie immer, mit einem Buch in der Hand.

      „Na, mein Schatz, noch alle Namenlosen da?” Pauls Mutter war eine etwas rundliche und gemütliche Frau Ende dreißig, mit langen, schon leicht ergrauten Haaren und immer guter Laune.

      „Ja, ja, alle angetreten zum Rapport”, grinste Paul schwächlich zurück.

      Besorgt musterte seine Mutter ihn. „Was ist los mit dir, du bist so blass? Ist dir die Überfahrt nicht bekommen?”

      Musst du gerade sagen, dachte Paul entrüstet. Wer ist denn jedes Mal schon bei Windstärke zwei seekrank? Das bist doch wohl du! Aber er war auch dankbar für die mundgerechte Ausrede, also brummte er irgendeine unverständliche Zustimmung.

      Nur zur Sicherheit natürlich, schloss er gleich mal unauffällig alle Fenster. Nur für den Fall, dass es doch kleine Feen gab und nur für den Fall, dass diese noch mal versuchen könnten, Kontakt zu ihm aufzunehmen.

      „Möchtest du etwas essen? Oder einen Tee?”

      „Tee wäre gut.” Gedankenverloren goss er sich eine Tasse ein, nippte daran, verbrühte sich prompt und zog leise fluchend von dannen. Sein Blick fiel auf das Bücherregal, das, wie in jeder Ferienwohnung, die sie bisher bewohnt hatten, mit einschlägiger Helgoland-Literatur bestückt war und las die Titel.

      „Verwehte Spuren” von Benno Krebs, „Auf Helgoland ist alles anders” von H.P. Rickmers, Fotobände von Franz Schensky, Tatsachenberichte, Mythen und Sagen... Die hatte er, genau wie seine Mutter, schon längst alle verschlungen.

      Die einzige deutsche Hochseeinsel hatte schließlich eine interessante Geschichte zu bieten. Etwa sechzig Kilometer von der deutschen Küste entfernt, trotzte der rote Bundsandsteinfelsen seit tausenden Jahren den Stürmen der Nordsee und war im Laufe der Zeit auf ein Geringes seiner ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft. Auch die einstige Verbindung zwischen der Hauptinsel und der vorgelagerten Düne war schon seit Jahrhunderten gebrochen und mittlerweile trennte die beiden eine breite Fahrrinne, in der die Seebäderschiffe im Sommer vor Anker lagen, während die Gäste das letzte Stück zur Insel mit dem “Inseltaxi”, den traditionellen Börtebooten, transportiert wurden.

      Im Laufe der Zeit gehörte die Insel mal den Dänen, mal den Engländern, bis hin zu den Deutschen. Unter deren Zugehörigkeit hatte die Insel in den beiden Weltkriegen einiges zu erdulden und war sogar zweimal vollständig evakuiert worden. Der „Big Bang” war dann trauriger Höhepunkt dieser Ereignisse und erst mit dem Wiederaufbau in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts konnte die Insel wieder besiedelt werden. Inzwischen war sie ein modernes Hochseebad geworden und bot unzähligen Urlaubern eine grandiose, einmalige Landschaft mit vielen seltenen Pflanzen und Tieren.

      All dies wusste Paul bereits über die Insel und ihm kamen auch wieder die Geschichten über Atlantis und Helgoland in den Sinn. Sollte die Insel tatsächlich sogar über einen Zugang zu diesem sagenumwobenen Ort verfügen? Was wusste er eigentlich über Atlantis?

      Die unterschiedlichsten Theorien hatte er schon gehört. Manche hielten es für die „Wiege der Menschheit”, von der alles Leben auf Erden ausgegangen sein soll. Andere waren davon überzeugt, die Menschen seien ein Experiment von Außerirdischen und deren Basisstation sei Atlantis gewesen. Filme hatte Paul gesehen, in denen das verschollene Eiland als mythischer Ort dargestellt wurde, wo Menschen und Meerjungfrauen zwischen altgriechisch anmutenden Gebäuden friedlich miteinander lebten und vom Meereskönig regiert wurden. Auch, dass es die verschiedensten Vorstellungen davon gab, wo Atlantis gelegen haben könnte, hatte er gehört. Eine davon war natürlich auch jene Sage, laut der das Eiland ganz in der Nähe von Helgoland gelegen haben soll. Gerade diese Theorie war ihm immer am unwahrscheinlichsten vorgekommen. Wie oft war er schon hier gewesen und hatte außer den Mythen nie etwas entdeckt, was wie eine Verbindung zwischen den beiden Inseln aussah. Und er hatte wahrlich jeden erreichbaren Winkel der Insel erkundet.

      Im Berginneren solle der Zugang liegen, hatte die Fee berichtet. Irgendwie wünschte er sich die kleine Fabelgestalt jetzt doch herbei. Hatte er doch mindestens tausend Fragen an sie. Zwar klammerte er sich noch immer an der Hoffnung fest, sich das alles nur eingebildet zu haben und vielleicht war er ja auch einfach nur kurz auf der Bank eingenickt, eingeschläfert von der beruhigenden Geräuschkulisse des ihn umgebenden Meeres und hatte geträumt.

      Bestimmt sogar.

      Aber seine Neugier war geweckt. Wieder befingerte er seine merkwürdig erwärmte Feuersteinkette und schaute durch das Fenster hinüber zur Düne. Und glaubte plötzlich, sein Herz bliebe stehen! Das dunkle, schwarze Etwas, das da über den Hügeln der Düne tobte, diese Mischung aus Ungeheuer, Dämon und Ausgeburt eines Alptraumes, das war mit Sicherheit kein Wolkenfetzen oder dergleichen.

      Es war, wie Vicki es angstvoll genannt hatte - und in Ermangelung eines passenderen Wortes nannte er es auch so - ein Rochusmensch.

      Paul rieb sich kräftig über die Augen und starrte noch einmal hin, doch der Anblick hatte sich nicht verändert. Mal abgesehen von den Sternchen, die er jetzt zusätzlich

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