Roulett. Peter Schmidt
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"Immer sachte ..."
"Mich legen Sie nicht herein, Wunsch." Er lachte verhalten. "Sie haben die halbe Agentur an der Nase herumgeführt. Bei mir sind Sie an den Falschen geraten."
Ich wusste nicht, ob Ernie uns zusah, wie er mich nach oben brachte. Ich hätte nicht mal sagen können, ob er wieder an seinem Tisch saß. Ich stolperte die dunkle Treppe zum ersten Stock hinauf.
Aus der Küche hörte ich Mama singen – vielleicht, weil sie eine neue Einfärbmethode für ihre Soßen von vorgestern gefunden hatte; sie sang ihre Arien immer eine Tonlage zu hoch –, und als wir am Treppenabsatz waren und ein wenig kalte Aprilsonne auf mein Gesicht fiel, hatten sich meine Augen so weit an den Zustand gewöhnt, dass ich wieder Schatten und Umrisse wahrnahm. Irgendwo da draußen im Innenhof saß Madonna und machte ihre Schulaufgaben.
Ich nannte sie Madonna, weil mich ihr glattes junges Mädchengesicht an die Marienbilder in der Kirche erinnerte. Ihr wirklicher Name war Francesca. Sie saß immer dort um diese Zeit, den kurzen schwarzen Rock so weit hochgeschoben, dass man ihre formvollendeten kakaobraunen Schenkel sah. Ein Anblick, der die Männer wahnsinnig machte.
Diesmal sah ich nicht mehr als die unbelaubte Krone des Baumes, ein schwarzes Geflimmer.
"Was ist los, Leo? Sie zittern ja am ganzen Körper. Weiter, weiter ..."
Vor Leidenschaft, dachte ich. "Sitzt Francesca unten im Hof?"
"Ja, sie macht ihre Schulaufgaben. Sie hat ein halbes Dutzend blauer Hefte um sich ausgebreitet."
"Bitte geben Sie mir meine Brille." Ich streckte meine Hand in die Richtung aus, wo ich seinen verschwommenen Schatten vermutete.
"Wozu?"
"Ich möchte sie sehen."
"Francesca? Sie sind ein Witzbold."
"Bitte, es ist wichtig."
"Tatsächlich? Um so besser. Ihre Schenkel sehen heute wieder mal alabasterweißer aus denn je", schwärmte er. "Ein unglaublicher Anblick. Aber Sie sollen schmoren, bis Sie in der Hölle sind, Leo. Ich werde Ihre Brille zertreten, dann ist Francesca aus Ihrem Leben verschwunden. Jedenfalls, bis Sie in diesem verlassenen Kaff einen Optiker gefunden haben."
"Unsinn, ihre Schenkel sind kakaobraun."
"So, glauben Sie? Hm, mag sein … Das kann man aus dieser Entfernung nicht so genau erkennen."
"Also gut, mein Pass ist unter der Wäsche im Schrank. Zweites Fach von oben. Da finden Sie auch eine Liste aller falschen Namen, die ich in den letzten Monaten benutzt habe."
"Na also, warum nicht gleich so? Geben Sie mir den Zimmerschlüssel."
"Passen Sie auf meine Sammlung auf. Es sind ein paar unersetzliche Unikate darunter."
"Meine Sammlung ... ich werde dafür sorgen, dass alles an die rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben wird. Ihre Karriere als Dieb ist beendet."
Sie fängt jetzt erst an, dachte ich. Ich bin dreiundzwanzig und nicht mal in dem Alter, wo man die entscheidenden Weichen stellt. Das Alter, in dem die meisten Menschen den Grundstein für ihr späteres Leben legen, ist achtundzwanzig. Dann hat man genug Erfahrung, um die Tragweite seiner Entscheidungen abzuschätzen. (Ich konnte nicht ahnen, dass Ernie mir diese Last fünf Jahre vor der Zeit abnehmen würde.)
2
"Aufschließen, Leo. Aber Vorsicht, ich bin hinter Ihnen. Sobald Sie eine falsche Bewegung machen ..."
"Tut mir leid, ich kann nicht die Hand vor Augen erkennen."
Das war gelogen, denn inzwischen konnte ich wieder einzelne Gegenstände unterscheiden. Siebzehn war meine Zimmertür, ein schiefhängendes, rotlackiertes Holzschild, unter dessen Ziffern jemand, vielleicht ein unzufriedener Gast, mit schwarzem Filzstift WC gemalt hatte.
Und irgendwo hinter uns im Hof saß Francesca, die Unnahbare, die Kindfrau, in französische Grammatik versunken oder auf einem fernen Eiland mit Kokospalmen verweilend, das ihr lüsterner Geographielehrer für sie beide als heimliches Refugium ausgewählt hatte.
Oder ließ sich das Fach einfach abwählen? War es ein tumber Mathematiklehrer, dem weiße Haarbüschel aus den Ohren sprossen?
Versuchte er sie in seine Gartenlaube am Stadtrand zu entführen? Wovon träumte sie gerade? Wie viel Millionen Kindfrauen hat es schon gegeben, die uns alten Kerlen den Kopf verdrehen!
Es ist, als bliebe die Nadel immer wieder in derselben Schallplattenrille hängen ...
"Geben Sie her." Er klapperte ärgerlich mit dem Schlüssel, und als er seinen Kopf durch den Türspalt steckte, bekam er prompt einen Hustenanfall wegen der abgestandenen Luft. Mamas Zimmer waren seit einem halben Jahrhundert weder gelüftet noch tapeziert worden. Sie hätten leicht in einem Museum für Wohnen um die Jahrhundertwende stehen können.
Die Fensterrahmen waren verschraubt, um Einbrechern und Zechprellern das Handwerk zu legen. Wenn man auf dem Bett lag, konnte man im einfallenden Sonnenlicht den Staub sehen. Er war wie eine miniaturisierte Galaxis, die immer wieder von unerklärlichen Kräften hoch- und durcheinandergewirbelt wurde (wie das echte Universum) und zu Boden sank, unaufhörlich, Millionen und aber Millionen Jahre lang.
So eintönig und monoton stelle ich mir das Leben des Spießbürgers vor. Es scheint völlig belanglos zu sein, ob er noch einmal wiedergeboren wird oder für immer in der feuchten Friedhofserde verschwindet.
"Leo, schlafen Sie nicht ein."
Langsam begann mir der schrille Klang seiner Stimme auf die Nerven zu gehen.
Ein Knarren war zu hören, als er die Schranktür öffnete – und weil sich das federnde Klavierband mitsamt den Schrauben von der Seitenwand gelöst hatte, schnellte es plötzlich vor und verfehlte nur knapp seinen Kopf. Er schnaufte ärgerlich.
"Ist das wieder einer Ihrer Tricks, Leo?"
Dann nahm er die gerahmte Korkplatte aus dem Fach, auf der meine Käfersammlung aufgespießt war. (Für den Laien gebrauche ich manchmal das Wort Käfer, obwohl Schaben mit Käfern eigentlich nicht näher verwandt sind.)
Er hielt sie schräg gegen das Licht, weil sich die Deckenlampe im Abdeckglas spiegelte …
Die meisten waren seltene Exemplare, zusammengetragen aus fünf Kontinenten, darunter ein paar prächtige Exemplare der "Amerikanischen Schabe", Periplaneta americana, und zwei mutierte "Orientalische Schaben", Blatta orientalis, bei uns auch Küchenschabe, Kakerlak genannt, die ihre gewöhnliche Größe von neunzehn bis fünfundzwanzig Millimetern aus unerklärlichen Gründen verdoppelt hatten.
In ihren Panzern steckten schwarze Nadeln. Als ich sie einmal in Nürnberg einem Experten zeigte, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Seiner Meinung nach konnte ihr Riesenwuchs nur von der radioaktiven Strahlung aus Tschernobyl herrühren.
"Pfui Teufel, was ist das denn, Leo?"
"Sehen Sie einfach weg, wenn Sie's