Anne und die Horde. Ines Langel
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„ Zucker“, flüsterte Zankintos ehrfurchtsvoll und ängstlich zugleich.
Anne starrte Zucker entgeistert an, und Zucker musterte sie. Ihre Blicke trafen sich. Anne hatte mit Ablehnung oder sogar Wut im Blick des Anführers gerechnet. Doch sie sah nur Traurigkeit.
„Zucker“, rief ein Heinzelmädchen, das in Annes Nähe stand, „was wir mit ihr machen sollen?“
„Sie unser Versteck verraten wird!“, rief ein Heinzelmännchen.
„Nein, wird sie nicht!“, rief Zankintos, doch niemand beachtete ihn.
„Wir nehmen sie mit“, sagte Zucker . „Wir nehmen sie mit und halten sie fest, bis wir einen neuen Bau haben. Wenn sie nicht weiß, wo wir hingehen, dann kann sie uns nicht verraten.“
Die Menge stöhnte.
„Schon wieder Umzug?“, fragte jemand, den Anne nicht sehen konnte.
Zucker nickte traurig. „Was bleibt uns anderes übrig?“
Anne wollte die Horde beruhigen, doch sie kam nicht dazu. Schon wurde sie von den umstehenden Heinzelmännchen gepackt, hochgehoben und weggetragen. Sie schrie protestierend, doch das half ihr nicht. Wie ein Gepäckstück wurde sie in den Bau der Horde verschleppt.
Unter dem Golfplatz
Wäre Anne größer gewesen, hätte sie nicht in den Bau gepasst, das war klar. Schon jetzt stieß sie an hervorstehenden Gesteinsbrocken und Wurzeln mit dem Kopf an oder berührte die Stollenwände mit den Schultern. Sie kam sich vor wie ein Trampeltier, während sich die Heinzel flink und geschmeidig durch ihre Wohnanlage bewegten.Der Bau bestand aus zahlreichen Kammern, die durch Gänge miteinander verbunden waren. Jedes Heinzel hatte seine eigene Kammer. Soweit Anne an den vielen nur halb ausgeschachteten Stollen erkennen konnte, war der Bau noch nicht abgeschlossen. Später würde hier ein riesiges unterirdisches Tunnelgeflecht entstanden sein – oder auch nicht, falls sich die Horde ihretwegen gezwungen sehen sollte, den Bau aufzugeben. Auch deshalb bereute es Anne, hierhergekommen zu sein. Viele Tunnel und Kammern waren mit Kerzen oder Petroleumlampen beleuchtet. Doch in den unbeleuchteten war es so dunkel, dass Anne die Hand nicht vor Augen sehen konnte. Den Heinzeln aber schien die Dunkelheit nichts auszumachen. Sie führten Anne sicher durch das Tunnellabyrinth, achteten auch darauf, dass sich das große Mädchen nicht wehtat. Schon bald hatte Anne die Orientierung vollständig verloren.
Sie wurde in eine Kammer geführt, die für diese Puppenstube recht geräumig war. Dort blieb sie mit einem Heinzelmädchen allein. Anne konnte hier fast aufrecht stehen. Im Lichtschein mehrerer Kerzen erkannte sie vier niedrige bunt bemalte Plastikhocker, die um einen dazu passenden Tisch standen. Es war leicht zu erkennen, dass es sich um Kindermöbel handelte. An der Wand hing ein goldumrahmtes Ölgemälde, das einen röhrenden Hirsch vor einer dunklen Waldkulisse darstellte. An der gegenüberliegenden Wand hing ein Badezimmerteppich. Darunter stand ein Puppenkinderwagen. Eigentlich sah es recht wohnlich aus.
„Ganz nett hier“, sagte Anne.
Das Heinzelmädchen mit violettfarbenen Augen und blauglänzenden Flügeln lächelte Anne an.
„Danke“, sagte es artig. „Ist noch nicht fertig, dauert immer ein Weilchen, schöne Einrichtung zu kriegen.“
Anne nickte, als würde sie das Problem kennen.
„Warum hast du die Badezimmermatte an die Wand gehängt?“
Das Heinzelmädchen blickte erstaunt. „Macht man das nicht?“
„Nein“, sagte Anne. „Eine Matte gehört auf den Boden.“
„Warum auf Boden?“
„Weil man dann keine kalten Füße bekommt.“
Das Heinzelmädchen überlegte einen Augenblick. Dann ging es zur Wand und löste die Matte ab.
„Wohin sie legen?“.
Anne nahm ihr die Matte ab.
„Wie wäre es hier?“
„Oh ja, ist schön“, sagte das Heinzelmädchen und stellte sich auf die Matte. „Ist warm für die Füße“.
„Ich bin Anne“, sagte Anne.
„Ich Zantana.“
„Zantana, Zankintos, Zucker … wie heißen die anderen Heinzel?“
„Oh, gibt so viele, weißt du, zum Beispiel Zimt, Zwiebel, Zoo, ZuckZuck, ZickZack, Zitrus, Zimmel, Zatura, Zelle, Zerstörer, Zimperl…“
„Dacht ich’s mir doch“, unterbrach Anne. „Ihr habt alle Namen, die mit Z beginnen.“
„Aber ja“, versicherte Zantana, „ist Tradition bei uns.
Ein weiteres Heinzelmädchen betrat den Raum. Seine Augen leuchteten in strahlendem Gelb, sein Fell war tiefschwarz und seine Flügel schimmerten grün.
„Du bist das, du “, rief es wütend und starrte Anne an.
Anne war so erschrocken, dass sie kein Wort herausbrachte.
„Du der Grund, warum wir wieder umziehen. Immer umziehen, immer umziehen“.
„Nicht schimpfen, Zicke“, mischte sich Zantana ein.
„Doch schimpfen“, schimpfte das schwarze Heinzelmädchen, das offenbar Zicke hieß. „Immerzu auf der Flucht, ätzend ist das. Rein in die Kammer, raus aus der Kammer, ne, ne, ne. Nicht mit Zicke.“
„Tut mir leid“, stotterte Anne, „ehrlich, ich wusste doch nicht…“
„Wusstest nicht“. Zickes Augen funkelten. „Dringst bei uns ein und weißt nicht, warum“.
„Ich weiß, dass mein Kompass hier ist. Ich will doch nur meinen Kompass wiederhaben.“
„Kompass?“, fragten Zicke und Zantana wie aus einem Mund.
„Sag ich doch“, antwortete Anne, „Zankintos hat meinen Kompass gestohlen. Den will ich wieder haben, und das ist auch schon alles. Ihr müsst nicht umziehen. Ich werde niemandem sagen, dass ihr hier wohnt.“
„Und wenn du lügst?“ Zicke stand der Argwohn in den Augen. „Traue niemals Menschen. Menschen lügen.“
Überleg doch mal“, konterte Anne, „selbst wenn ich plaudern würde, wer glaubt mir denn schon? Kein Mensch glaubt an Heinzelmännchen“.
„Menschen schreiben Gedichte über uns“, wandte Zantana ein.
„Stimmt“, sagte Anne. Trotzdem glauben sie nicht, dass es euch gibt“.
„Schreiben über was, dass es nicht gibt. Warum tun Menschen das?“, fragte Zicke.
„Weil es ihnen Spaß macht. Und weil Menschen erfundene Geschichten