Anne und die Horde. Ines Langel

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Anne und die Horde - Ines Langel

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Er ist flugunfähig, kann allerdings gut klettern. Zwar ist er der größte Papagei der Welt, aber auch extrem gefährdet. Es gibt nur noch so wenige seiner Art, dass die Zoologen in Neuseeland jedes Tier kennen und beobachten.

      Anne besah sich das Bild erneut. Konnte es sein, dass ein fast ausgestorbenes Tier in Deutschland in Köln in einer Buchhandlung saß? Plötzlich fühlte sie sich wirklich krank. Ihr Bauch schmerzte und ihr Kopf tat weh. Sie schlug das Buch zu und legte ihren Kopf auf den harten Einband.

       Was passiert hier?

      Papa öffnete die Tür und lugte in Annes Zimmer.

      „Mausezahn, du bist ja noch wach.“

      Anne setzte sich auf. „Ich kann nicht schlafen.“

      Papa öffnete die Tür ganz und trat zu ihr ans Bett.

      „Tut dir was weh?“

      Anne zeigte auf ihren Bauch. Papa setzte sich auf ihre Bettkante. Er nahm das große Buch und legte es auf ihren Nachttisch, dann schüttelte er ihre Kissen aus und legte sie mit sanftem Druck auf den Rücken. Als Papa die Decke über sie zog und ihr einen Kuss auf die Stirn gab, fühle Anne sich schon gar nicht mehr so schlecht.

      „Soll ich dir eine Geschichte erzählen“, fragte Papa.

      Anne lächelte. „Kannst du noch mal die von der kleinen Hexe erzählen?“

      „Aber natürlich, mein Mäusemädchen.“

      Anne schloss die Augen und lauschte Papas Stimme. Sanft erzählte er von der kleinen Hexe und ihrem Raben Abraxas. Anne zwang sich, wach zu bleiben, weil sie unbedingt den Schluss von der Geschichte hören wollte. Deshalb machte ihr Papa zum Einschlafen noch eine Drei-???-Kassette an, bevor er ihr Zimmer verließ. Anne fühlte sich seltsam erregt. Die Welt erschien ihr dumpf, wie in Watte gehüllt. Sie würde sich morgen wieder Gedanken machen und vielleicht sah die Welt dann klarer aus. Weniger verwirrend. Sie rollte sich auf die Seite. Mit der linken Hand zog sie ihre Nachttischschublade auf und öffnete das bunte Kästchen, das dort immer stand. Mit den Fingerspitzen strich sie über ihren Kompass.

       Du wirst mir immer den Weg weisen, egal wo ich bin.

      Der Kompassdieb

      Als Anne am nächsten Morgen die Beine aus dem Bett schwang, trat sie auf etwas Hartes. Zuerst war sie verwirrt, doch dann entstand ein Bild in ihrem Kopf: Erdnüsse.

      Tatsächlich, Anne war auf Erdnüsse getreten, die vor ihrem Bett gelegen hatten. Die Schalen waren eingetreten, die Frucht zermalmt. Unter ihrem Fuß klebten Krümel. Anne wischte sie fort und überlegte, ob etwas vor ihrem Bett gestanden hatte, das den Dieb interessiert haben könnte.

       Es muss etwas Glänzendes sein.

      Doch es wollte ihr nichts einfallen. Sie ging auf alle Viere und lugte unter das Bett. Das übliche Chaos blickte ihr entgegen. Anne schüttelte den Kopf. Unmöglich, herauszufinden, was alles da unten lag.

      Ich muss wohl warten, bis ich etwas vermisse, dachte Anne und erhob sich.

      Krachend stieß sie beim Aufstehen mit dem Hinterkopf an ihre Nachttisch-Schublade, die sie wohl gestern Abend zu schließen vergessen hatte. Murrend setzte sie sich zurück auf ihr Bett und blickte in die offene Lade. Was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Das Kästchen war offen, der Kompass verschwunden. Im Kästchen lagen Erdnüsse.

      Entsetzt schrie Anne auf.

      „Das geht zu weit! Du kannst alles haben, aber nicht den Kompass!“

      Schreiend und tobend lief sie durch ihr Zimmer und suchte nach ihrem liebsten Schatz, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war. Der Dieb war bereits über alle Berge und würde erst dann wieder auftauchen, wenn er den nächsten Gegenstand holte. Wenn sie ihren Kompass jemals wiedersehen wollte, dann musste sie das haarige Ding einfangen. Sie musste ihm eine Falle stellen und es zwingen, alles wieder herzugeben, was es geklaut hatte.

      Mamas verschlafenes Gesicht erschien in Annes Türrahmen.

      „Anne? Was machst du für einen Krach?“

      „Das behaarte Ding hat meinen Kompass gestohlen und dafür Erdnüsse zurückgelassen.“

      Mama rieb sich die müden Augen und gähnte.

      „Du meinst die große Spinne?“

      „Keine Spinne!“, schrie Anne, so laut sie konnte.

      Mama sah sie befremdet an. „Anne, was ist das für ein Ton?“

      Ja, wie redete sie mit ihrer Mutter? Anne tat es sogleich leid.

      Swontje erschien hinter Mama und nörgelte: „Kann man denn hier nie seine Ruhe haben?“

      „Ach, lass doch“, meinte Mama, „Anne hat einen Aussetzer. Das geht vorüber. Ich geh mal und mache Frühstück. Möchtest du ein Ei, Bärchen?“

      Swontje zog missbilligend die Augenbrauen hoch. „Mama, ich bin zu alt dafür.“

      „Für Eier?“ Mama gähnte erneut.

      „Nein“, flüsterte Swontje, „für Bärchen.“

      Mama tippte Swontje auf die Nase. „Das mag sein, doch ich bin es noch nicht, und solange ich es noch nicht bin, wirst du Kosenamen ertragen müssen, obwohl du psychologisch betrachtet völlig im Recht bist, mein Murmeltier“.

      Mama ließ Swontje stehen und ging in die Küche. Anne grinste.

      „Mein Murmeltier“, äffte sie ihre Mutter nach, wobei sie ziemlich genau deren Tonfall traf.

      „Du bist ja bescheuert!“, knurrte Swontje und verschwand in seinem Zimmer.

      Anne stieß einen Seufzer aus. Normalerweise machte es ihr mehr Spaß, Swontje zu ärgern. Aber ihr Kummer war durch das kleine Zwischenspiel mit Mama und Bruder nicht ausgeräumt.

      „Mein schöner Kompass“, seufzte sie leise und fühlte, wie sich ihr Magen zusammen zog.

      Sie brauchte etwas Glänzendes, etwas, das leuchtete, funkelte, glitzerte, so schön, dass dieses haarige Wesen unmöglich widerstehen konnte. Es durfte nur nichts Wertvolles sein, schon gar nicht, wenn es Mama oder Papa gehörte.

      Anne setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl und dachte nach.

       Was glänzt und ist schön?

      Anne schnippte mit den Fingern. Das war die Idee: Weihnachtsbaumschmuck.

      Schnell zog sie sich den Morgenmantel und die Hauschuhe an. Im Flur schnappte sie sich Haus- und Kellerschlüssel vom Haken und schlich, so leise sie konnte, mit schlechtem Gewissen aus der Wohnung. Papa wollte nicht, dass seine Kinder allein in den Keller gingen. Eigentlich war Anne auch nicht sehr scharf darauf. Es war dunkel, staubig und gruselig dort unten. Doch für den Kompass würde sie fast alles tun. Im Parterre begegnete sie Herrn Friedel, einem netten alten Mann, der den Kolbekindern öfter mal Süßigkeiten zusteckte. Man sah ihm an,

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