Ein Mann zwei Leben. Martin Renold

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ich keine anderen Gefühle ihr gegenüber als all die Jahre vor ihrem Tod und die Wochen und Monate seit diesem Ereignis. Mein stärkstes Gefühl ihr gegenüber war schon immer nur das der Schuld gewesen, der Schuld, sie durch die Heirat an mich gebunden zu haben, obwohl mir damals schon bewusst war, dass ich sie nicht so liebte, wie ich mir vorstellte, dass die einzige große und wahre Liebe sein müsste. Jetzt, da mir ihre inneren Konflikte wieder stärker bewusst wurden, kam zu diesem Gefühl der Schuld auch das des Mitleids. Ja, sie tat mir leid. Aber ich fragte mich auch, wie weit ich schuld an ihren Konflikten war. Sie hatte vom ersten Tag unserer Ehe an in einer Art und Weise von mir Besitz ergriffen und mich nie losgelassen, dass ich unsere Ehe als eine Fessel empfand, die es mir trotz anfänglich langem Widerstreben leichter gemacht hatte, mich innerlich Angelika zuzuwenden, die damals noch nicht verheiratet war, und ihre große Liebe in gleichem Masse zu erwidern. Gehörte dieses Besitzergreifen nicht schon zu Karins Wesen, bevor wir uns kennen lernten? Gerne hätte ich nun einen Brief aus unserer Verlobungszeit oder den ersten Ehejahren zur Hand gehabt, um festzustellen, wie ihre Schrift sich geändert hatte. Doch so sehr ich auch suchte, ich fand keinen aus der Zeit, bevor ich sie betrogen hatte. Doch ich glaube, mich zu erinnern, dass ihre Schrift sich kaum von der späteren unterschieden hat, so dass alle Charaktereigenschaften schon damals in ihr steckten und der Grund zu unserem ehelichen Zerwürfnis schon in ihr saß, bevor wir uns begegnet waren.

      Wenn dem so war, dann müssten eigentlich die Charaktereigenschaften des Tierkreiszeichens, unter dem Karin geboren war, mehr oder weniger dasselbe aussagen wie meine Schriftanalyse, überlegte ich mir. Dann müsste Karins Schriftbild sich beinahe zwangsläufig auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu den Skorpionen entwickelt haben, ihr also sozusagen in die Wiege gelegt worden sein.

      Ich ließ mir von Angelika ein Astrologiebuch aus Karins Bibliothek holen. Hier las ich ein längeres Kapitel über die Eigenschaft der Skorpione und sah darin meine Vermutung bestätigt. In einem kurzen, zusammenfassenden Text fand ich folgenden Passus:

      „Skorpion-Menschen können sein wie Herbststürme, heftig, aggressiv, zerstörerisch. Sie zerfleischen sich selbst. In der Liebe sind sie besitzergreifend. Sie können rachsüchtig sein und fühlen sich meist unverstanden, wollen aber auch nicht, dass man sie versteht, dass man in sie hineinblickt. Der Skorpion ist meist ein liebenswürdiger Mensch, der in Gesellschaft sehr umgänglich ist. Er verteilt jedoch Sympathien und Antipathien in einer manchmal recht unverdeckten und verletzenden Art und Weise. Er ist in starkem Maße ichbezogen. Alles muss sich um ihn drehen. Auf die Gefühle anderer nimmt er kaum Rücksicht. Er kann sich manchmal in eine fast dämonische Zerstörungswut hineinsteigern, die auch dann keine Grenzen kennt, wenn er selber dabei zu Schaden kommt. Der Skorpion setzt alles aufs Spiel. Doch er mag sich noch so oft mit seinem eigenen Stachel ins eigene Fleisch stechen, er wird immer wieder wie ein Phönix aus der Asche auferstehen.“

      Ich war verblüfft, wie nah doch diese Charakterisierung meiner Analyse kam. Alle ihre Eigenschaften steckten also doch wohl in Karin seit ihrer Geburt und hatten sich durch unser Zusammenleben weder im Guten noch im Bösen wesentlich verändern lassen. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht ganz los, in meiner Ehe manches versäumt zu haben und zu wenig auf Karins Gefühle eingegangen zu sein. Vor allem aber hatte ich durch meine Abwendung von ihr und meine Liebe zu Angelika ihre Gefühle negativ beeinflusst und verstärkt. Eingebettet in meine Liebe, hätten sie sich wohl sanfter geäußert und hätten nie zu diesen Spannungen zwischen uns geführt und sie in die Arme eines anderen getrieben. Jetzt, da Karin tot war, bedauerte ich, dass ich ihr nicht mehr von dieser meiner späten Erkenntnis sagen konnte. Doch, so dache ich auch wieder, was wäre in unserem Leben anders geworden? Das Schicksal hat es nun offenbar einmal so gewollt.

      Ich beschloss, nebst der Graphologie mich auch vermehrt mit den Eigenschaften der Tierkreiszeichen zu beschäftigen, dabei aber meine Skepsis doch beizubehalten. Ich wollte mit aller Vorsicht versuchen, Zusammenhänge zwischen Tierkreiszeichen und Schrift zu finden. Bei meinen Analysen sollte das eine das andere bestätigen.

      Karin selbst hatte oft in diesen Büchern gelesen. Sie musste sich in solchen Charakterisierungen wiedererkannt haben. Doch sie war stolz, ein Skorpion zu sein, ein Skorpion wie kein anderer, außer Bernhard natürlich, der fast am gleichen Tag wie sie Geburtstag hatte. Nur sie beide, hatte sie behauptet, seien richtige Skorpione, so voller Widersprüche, so voller Leidenschaft, so eingebildet noch auf alle schlechten Eigenschaften und Laster, auf deren Schicksalshaftigkeit man sich so gut berufen konnte. „Ich bin halt ein Skorpion. Da kann man nichts dagegen tun.“ Sie war der Gefahr, schicksalsgläubig zu werden, nicht entgangen, hatte dem Schicksalswagen aus Goethes „Egmont“ doch keine so große Bewegungsfreiheit zugetraut, wie sie mir in unseren Diskussionen hatte weismachen wollen, sie, die von allen anderen erwartete, dass sie gegen das Schicksal ankämpften und sich nicht damit entschuldigten, dass man nichts ändern könne. Man brauche nur zu wollen. Im Grunde wollte auch sie sich nicht ergeben. Auch sie kämpfte gegen das Schicksal, aber nicht in sich. Nicht sie wollte sich ändern, um das Schicksal zu ändern, um das Schicksal zu zwingen, sondern die andern sollten sich ändern, damit ihr Schicksal erträglicher würde.

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