Ein Mann zwei Leben. Martin Renold
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Hierauf kamen zwei oder drei Ärzte, und nach einiger Zeit sah ich die Gesichter von Martin und Hedwig über mir. Dann schlief ich wohl wieder ein; denn als ich erneut aufwachte, war es Nacht, und später einmal lag ich in einem anderen Zimmer, und die Sonne schien durch ein Fenster auf mein Bett. Nach und nach erfuhr ich von den Pflegerinnen oder meinen Kindern, die mich teils abwechselnd, teils miteinander besuchten, dass ich seit ungefähr vierzehn Tagen im Kantonsspital lag, dass Karin bei dem Unfall ums Leben gekommen und inzwischen kremiert und begraben worden war, dass ich selber bereits für tot gehalten worden sei, da mein Herz einige Zeit zu schlagen aufgehört habe, dass man mich aber wieder ins Leben habe zurückrufen können. Inge hatte nur Prellungen und einen Knöchelbruch erlitten. Auch der Fahrer eines andern Autos, der einen Wagen vor ihm habe überholen wollen, ohne in den Rückspiegel zu schauen, habe seine Unvorsichtigkeit mit dem Leben bezahlen müssen. Der Spitalpfarrer hatte mir auch behutsam eröffnet, dass man mir den linken Fuß und das rechte Bein bis unter das Knie habe amputieren müssen. Ich hatte dies bereits selbst festgestellt, obwohl ich manchmal meine verlorenen Glieder noch deutlich zu spüren vermeinte.
Schon am Tag nach meinem Erwachen kam Angelika. Sie hatte durch Hedwig von meinem Unfall erfahren, war zu Karins Beerdigung gegangen und hatte sich wiederholt nach meinem Ergehen erkundigt.
Die Zeit im Spital wurde mir lang. Die Beinstummel heilten schlecht. Die Wunden mussten immer wieder ausgewaschen und desinfiziert werden, was nicht ohne brennende Schmerzen ablief.
Angelika besuchte mich, so oft sie konnte.
Ich hatte viel Zeit, über mein Leben nachzudenken. Aber manchmal, wenn ich so dalag und an nichts dachte, kamen wie Fetzten aus einem fernen Traum Bilder zu mir, und seltsame Empfindungen suchten mich heim. Mir war plötzlich, als wäre ich ein kleines Kind, ein neugeborener Säugling. Der helle, weiße Raum, in dem ich lag, verwandelte sich in eine altertümliche, etwas muffige Stube. Nein, ich hatte ja die Augen geschlossen. Jenes düstere Zimmer befand sich nur unter meinen Lidern. Sobald ich sie öffnete, war wieder das Spitalzimmer da. Und eines Tages fragte ich die Pflegerin, die mir das Fieber maß, wie ich heiße. Sie war erstaunt und glaubte wohl, ich hätte den Verstand oder zumindest die Erinnerung verloren. Mir war, als hätte ich auf einmal drei Namen. Heinrich, Otto und Manfred. Und ich wusste einen Augenblick lang tatsächlich nicht, welches der richtige war.
Endlich kam der Tag, an dem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Ich wollte nicht bleiben, bis ich die Prothesen bekommen würde.
Angelika holte mich ab. Sie brachte mich selber im Rollstuhl zu ihrem Auto. Zwei Pfleger halfen ihr, mich auf den Sitz neben ihr zu heben. Auf dem Sitz hinter ihr saß Tilla, schüchtern und mit großen Augen. Die Pfleger klappten den Rollstuhl zusammen und versorgten ihn im Kofferraum.
Mein Haus in St. Gallen, am östlichen Rand der Stadt war voll Blumen.
„Die haben die Nachbarn gebracht, als ich gestern mit Hedwig zusammen das Haus für deine Rückkehr vorbereitete“, sagte Angelika. „Wir haben ein wenig umgestellt. Aus dem Gästezimmer haben wir für dich ein Studierzimmer gemacht.“
„Und mein bisheriges Zimmer?“, fragte ich.
Mein Zimmer war bis jetzt Arbeits- und Schlafzimmer in einem gewesen. Karin hatte allein im oberen Stock geschlafen. Sie war nur in mein Zimmer gekommen, um mein Bett zu machen, und ich hatte ihr Zimmer seit Jahren kaum mehr betreten, oder wenn, dann nur um mir vielleicht ein Buch von ihr auszuleihen oder für ein kurzes Gespräch zwischen Tür und Angel. Ich weiß kaum mehr, wann ich zum letzten Mal mit ihr geschlafen hatte. Ich war froh, dass sie es nicht mehr von mir erwartete. Und doch hatte ich mich Tag für Tag und Nacht für Nacht nach einem Menschen gesehnt, der liebend meinen Alltag, meine Abende mit mir teilen und keine Nacht von meiner Seite weichen würde. Diesen Menschen gab es: Angelika. Doch sie war mit einem andern Mann verheiratet. Aber jetzt stand sie neben mir, und statt eine Antwort auf meine Fragen zu geben, schob sie mich in das Zimmer. Der Schreibtisch war nicht mehr da, dafür stand neben meinem Bett ein zweites, und auf dem Tischchen daneben stand eine Vase mit einem Strauß roter Rosen.
Angelika lächelte. Ihre Nasenflügel bewegten sich, wie ich das oft an ihr erlebt hatte, wenn sie mich mit ihren braunen Augen, die einen Schimmer ins Grünliche zeigten, stumm anschaute, wenn sie ihren Atem anhielt und sie mich zu fragen schien: Ist es tatsächlich wahr, dass du mich liebst? Einen Augenblick lang schien sie dann zu zögern in Erwartung meiner Annäherung, der Berührung unserer Lippen, bis sie ihrerseits die Arme um mich schlang und tief Atem holte. So war es wie jenes erste Mal vor vielen Jahren.
„Du willst also hier bleiben?“, fragte ich.
Sie nickte stumm und erwiderte den Druck meiner Hand. „Und wenn Tillas Schulferien vorüber sind? Was dann?“
„Ich kehre nicht mehr zu Christian zurück“, antwortete sie. „Ich will nicht, und ich kann nicht mehr. Für Tilla habe ich oben Hedwigs Zimmer eingerichtet. Wenn sie dich nicht stört, bleiben wir bei dir, sonst suchen wir uns in der Nähe eine Wohnung.“
Ich sagte nichts. Ich zog sie nur zu mir herab, fasste sie mit beiden Händen um den Halb und küsste sie auf die Wange. Sie verstand meine Antwort, und ich sah, wie ihre Augen leuchteten.
Ich fragte nicht, was dieses „ich will nicht, und ich kann nicht mehr“ zu bedeuten habe. Ich wusste, dass sie das Zusammensein mit Christian schon lange kaum mehr aushielt, obwohl er sie liebte. Aber ihre Liebe gehörte so sehr mir, dass ihr die Ehe mit Christian oft sinnlos vorkam, und hätte ich sie nicht selbst ermuntert, um Tillas willen auszuharren, sie hätte wohl kaum so lange an seiner Seite leben können. Ich wusste, dass dieses „ich kann nicht mehr“, im Wunsch, jetzt bei mir zu sein, und im Wiederwillen mit einem ungeliebten Mann in so enger physischer Nähe zu leben, seinen Grund hatte. Dass vielleicht auch Christian nicht mehr wollte, jetzt, nachdem er ja alles erfahren haben musste, konnte ich nur ahnen.
„Hedwig und Martin sind einverstanden, dass ich bleibe.“
Angelika hatte mit ihnen bereits alles besprochen. Sie wussten schon lange von meiner Liebe zu ihr. Aber jetzt, da ihre Mutter nicht mehr lebte und sie meine Hilflosigkeit sahen, waren sie froh, dass Angelika ihnen die Arbeit, für mich zu sorgen, abnahm.
„Martin hat oben ja noch ein Zimmer, wenn er in den Semesterferien oder am Wochenende heimkommen will“, erklärte Angelika. „Und Hedwig will vorläufig in Karins Zimmer schlafen.“
Von Hedwig hatte ich bereits im Krankenhaus erfahren, dass sie eine eigene Wohnung gemietet hatte, um dort mit ihrem Freund zusammen zu wohnen. In ein paar Wochen wollte sie ausziehen. Ich wusste, dass sie dies schon vor dem Unfall geplant hatte. Angelika berichtete mir, Hedwig wäre vorerst nicht weggezogen und hätte mich mindestens eine Zeit lang gepflegt, sei nun aber doch froh, dass sie, Angelika, sich dazu entschlossen habe, bei mir zu bleiben.
Nachdem Angelika mir am ersten Abend ins Bett geholfen hatte, zog sie sich selber aus. Dann blieb sie in ihrem duftigen Nachtkleid, durch das ihr großer, schlanker Körper hindurchschimmerte, vor ihrem Bett stehen. Ich spürte, dass sie es nicht wagte, unaufgefordert zu mir ins Bett zu kommen. Sie fürchtete wohl, ich könnte glauben, dass sie meine Beinstummel abstoßend finden würde. Erst auf meinen Wink mit den Augen legte sie sich an meine Seite und ließ es geschehen, dass ich sie ganz an mich heranzog.
Angelika
Angelika