Ein Mann zwei Leben. Martin Renold

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Ein Mann zwei Leben - Martin Renold

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oft die Worte im Mund herum, wollte mich nicht verstehen, witterte hinter allem, was ich sagte, irgendwelche undurchschaubaren Absichten. Im Grunde bin ich ein ruhiger, ausgeglichener Mensch. Meine Bekannten glauben, ich stünde in jeder Situation über der Sache. Warum zwang mich Karin immer wieder, anders zu sein, nicht so zu sein, wie ich meiner innersten Natur entsprechend sein möchte? Jede meiner Ungezügeltheiten empfand ich als einen Schritt zurück auf dem Weg meines Lebens, der doch stets weiter vorwärts und höher, zu Abgeklärtheit und innerem Frieden führen sollte.

      Ich schämte mich vor mir selber. Ich machte Karin dafür verantwortlich. War ich ihr deshalb böse und gleichgültig ihr gegenüber, so dass sie es manchmal wirklich fast nicht mehr aushielt mit mir, obwohl sie mich liebte? Ich muss zugeben, dass ihre Liebe grösser und beständiger war als meine.

      Hätte ich gewusst, was vier Wochen später geschah, ich hätte mich wohl beherrscht. Doch nun war es zu spät. Es ging mir wie vielen, die nach dem Tod eines Angehörigen bereuen, etwas Gutes und der Liebe Förderliches versäumt oder etwas getan zu haben, das die Harmonie zerstörte. Doch wer kann schon so leben, dass bei einem plötzlichen Tod nicht etwas zurückbleibt, das man vorher noch gerne aus der Welt geschafft hätte.

      Karins Tod ist mir nahegegangen. Wenn man dreiundzwanzig Jahre miteinander lebt, verbindet einen vieles. Und wenn ich es recht bedenke, kamen wir trotz allem noch ordentlich gut miteinander aus, vor allem die ersten paar Jahre, bis Angelika in mein Leben trat. An Karins monatliche Zornausbrüche, die offenbar mit ihren „Tagen“ zusammenhingen, für die sie jedes Mal auch von mir meine volle Aufmerksamkeit forderte, hatte ich mich gewöhnt. Ich will ihr das auch nicht ankreiden. Welcher Mann weiß schon, was für Prozesse in der Biologie einer Frau sich in den Phasen des Mondes abspielen? Später, als sie erfuhr, dass ich Angelika liebte, wurde es schlimmer. Da konnte ich ihre Ausbrüche nicht mehr mit dem Kalender berechnen und vorhersehen. Doch als sie dann innerlich mehr Distanz zu mir genommen hatte und selbst auch außerhalb unserer Ehe Erfüllung ihrer Liebe fand, wurden die Stürme seltener. Die Erschütterungen waren nur noch leichtere Nachbeben.

      In den Trennungsschmerz, den ich bei ihrem Tod empfand, mischte sich Mitleid. Sie musste zwar nicht leiden. Sie war sofort tot. Aber sie war nicht vorbereitet. Sie war noch jung, hing noch sehr an ihrem Leben. Sie erwartete noch viel von der Zukunft. Auch ich. Trotzdem glaube ich, hätte ich den Tod leichter annehmen können als sie. Es hätte ja auch mich treffen können. Wir saßen im gleichen Auto. Ich hätte ihr die Freiheit von mir und ein neues Leben gegönnt.

      Ich erinnere mich, dass Karin mir ziemlich am Anfang unserer Ehe einmal sagte, es wäre ihr lieber, ich wäre tot, als dass sie mich an eine andere Frau verlöre. Ich konnte das nicht verstehen. Wie kann man einen Menschen, den man liebt, lieber tot sehen als glücklich mit jemanden, den er liebt? Ich sagte ihr, ich würde sie lieber einem anderen Mann überlassen. Ich sähe sie lieber in den Armen eines andern als tot in einem Sarg. Das nun konnte Karin nicht verstehen. Sie zweifelte an meiner Liebe. Ich dürfe ja nicht nur an mich und meinen Schmerz denken, erwiderte ich. Wahre Liebe wolle doch das Glück des andern.

      Jetzt ist Karin tot. Aber ich habe nicht nur sie verloren. Als ich nach dem Unfall wieder zu Bewusstsein kam, spürte ich allmählich, dass mir der linke Fuß fehlte und das rechte Bein bis zum Knie. Ich wollte es zuerst nicht glauben, denn ich spürte doch die Bettdecke an den Zehen, und die Füße stießen sich aneinander. Und manchmal schmerzte mich die rechte Wade wie nach einem Muskelkrampf. Aber die dicken Verbände – der Stummel am rechten Bein hing wie ein zu kurzer Dreschflegel an meinem Kniegelenk – ließen keinen Zweifel aufkommen.

      Es ist weniger der Verlust Karins, der mein äußerliches Leben verändert hat, als der Rollstuhl, in dem ich nun den größten Teil meiner Tage verbringe, seit ich aus dem Spital entlassen wurde. Es wäre falsch zu sagen, Angelika hätte Karins Stelle eingenommen. Angelika füllt nicht nur jene Leere aus, die durch Karins Tod in meinem Leben entstanden ist, sondern das Vakuum, das all die Jahre in unserer Ehe bestanden hat. Schon lange vor dem Unfall. Allein mit ihrer großen und doch stillen, nicht besitzergreifenden Liebe. Aber jetzt ist sie nicht nur mit ihrer Liebe, ihren Gedanken bei mir. Am Tag, als ich aus dem Krankenhaus kam, war sie einfach da – und blieb, mit ihrem Kind.

      Die Amputation der Glieder hat mich ans Haus gefesselt. Der Rollstuhl verschafft mir eine beschränkte Bewegungsfreiheit, vom Bett zum Tisch, vom Tisch zum Schreibpult, von da zur Ecke neben dem Sofa, wo ich lese oder mir von Angelika etwas vorlesen lasse.

      Ich habe meine bisherige Stelle aufgeben müssen. Die Invalidenversicherung zahlt mir eine Rente, und von meiner privaten Versicherung erhalte ich ebenfalls etwas. Karin war nicht hoch versichert. Doch alles zusammen reicht, um durchzukommen. Falls Angelika mich trotz meiner Behinderung heiraten will, braucht auch sie sich für ihre Zukunft keine großen Sorgen zu machen. Wir haben ja auch noch unser Haus. Und die graphologischen Gutachten, die ich, seit ich im Rollstuhl sitze, für verschiedene Leute mache, bringen auch etwas ein.

      Doch es sind nicht nur die äußerlichen Veränderungen, die der Unfall mit sich gebracht hat. Für mich zählen die inneren ebenso. Ich habe nun mehr Zeit, über das Leben nachzudenken.

      Nachdem Karin und ich uns oft aus dem Weg gegangen sind und uns in unseren eigenen Zimmern aufgehalten haben, ist es ein neues, schönes Gefühl, abends nicht mehr allein zu sein. Angelika sitzt neben mir. Jetzt bekomme ich zwar keine Mails mehr von ihr. Da Angelika ihre Mails an meine Adresse im Geschäft richtete, konnte ich sie lesen, ohne dass Karin etwas davon erfuhr.

      Jetzt sitzt Angelika jeden Abend bei mir. Wir reden miteinander, diskutieren. Angelika zwingt mich zum Denken. Manchmal liest sie mir vor, oder wir halten uns die Hände und schweigen. Angelika ist eine Frau, die schweigen und die im Schweigen ihre Empfindungen mitteilen kann.

      Ich fühle mich glücklich, obwohl ich mir früher mein Glück unter anderen Voraussetzungen vorgestellt hatte.

      Ich habe ein neues Leben gewonnen, ein zweites.

      Dies meine ich ganz real. Schon vor dem Unfall hatte ich ab und zu das unbestimmte Gefühl, als hätte ich schon früher einmal gelebt. Da waren manchmal Empfindungen, die wie aus einer Zeit vor meiner Geburt zu kommen schienen. Oder dann gab es Dinge in meinem Leben, die ich mir nur als Folge von Geschehnissen in einem früheren Leben vorstellen konnte.

      Eine erste bewusste Erkenntnis von einem Leben vor diesem Leben hatte ich bei dem Unfall. Seit jener schrecklichen Sekunde habe ich Einblick in mein zweites Leben. Eigentlich müsste ich sagen: das erste. Denn es ist ein früheres Leben. Vielleicht aber gab es ja schon eines davor, oder gar mehrere. Ich weiß es nicht. Nennen wir es also einfach das vorige Leben.

      Inge ist erst dreiundzwanzig, aber sie ist schon bald vier Jahre verheiratet. Sie ist meine ältere Tochter. Ihr Mann ist Angestellter einer Transportfirma in Lugano. Sie ging früh von zu Hause weg und folgte dem Drang der Liebe. Das mag zum Teil daran liegen, dass sie daheim zwischen uns Eltern keine allzu große Wärme spürte. Wir waren ihr und unsern zwei jüngeren Kindern, Martin und Hedwig, gewiss keine vernachlässigende Eltern. Wir haben uns sicher in ihrer Gegenwart kaum mehr gestritten, als andere Eltern in sogenannt intakten Ehen dies auch tun. Aber sie hatten vielleicht doch gespürt, dass unsere Liebe, vor allem meine, im Lauf der Zeit ziemlich erkaltet war.

      Inge war ein ruhiges Kind. Sie weinte nicht viel. Wenn ich sie in die Arme nahm, hörte sie immer sofort zu schreien auf. Auch aus der Flasche trank sie lieber, wenn ich sie ihr reichte. Vielleicht meinte ich das auch nur. Als stolzer Vater bildet man sich gerne so etwas ein. Aber sogar Karin musste anerkennen, dass Inge und später auch Martin und Hedwig, zumindest im Säuglingsalter, zufriedener waren, wenn ich sie in den Armen hielt. Meine Ruhe wirkte wohltuend auf sie und strömte auf sie über, während Karin in allem weniger geduldig war.

      Später hat sich Inge seltener an mich oder Karin geschmiegt. Sie war ein Kind, das Zärtlichkeiten eher auswich. Auch wenn wir glaubten,

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