Ein Mann zwei Leben. Martin Renold

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Ein Mann zwei Leben - Martin Renold

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Sie suchte sich für alles ihre eigenen Erklärungen. Ein schillernder Ölfleck auf der Straße, war für sie nichts „Fragwürdiges“. „Das ist ein Regenbogen, der vom Himmel gefallen ist“, sagte sie mit der ihr in allen Dingen eigenen Bestimmtheit. Obwohl sie manchmal fast zerbrechlich oder mimosenhaft wirkte, versuchte sie immer, mit allem selbst fertigzuwerden. Vielleicht war auch ihre Scheu vor Zärtlichkeit nur ein Mittel, sich frei zu machen und sich gegenüber der Umwelt zu behaupten.

      Da war Hedwig gerade das Gegenteil. Sie ließ sich, noch als sie den Windeln entwachsen war, gerne „vernaschen“ und suchte den körperlichen Kontakt, mit Karin vor allem, die das Defizit an Zärtlichkeit von meiner Seite auf diese Weise fast überschwänglich kompensierte. Und als Hedwig größer wurde, war es ihr geradezu ein Bedürfnis, diesen Kontakt im Spiel und im Streit mit Martin zu suchen.

      Als ich nach dem Unfall einmal einen früheren Brief von Inge hervornahm und die Schrift analysierte (seit ich im Rollstuhl sitze, habe ich mich intensiv mit Graphologie befasst), fiel mir eine negative Mutterbindung auf. Dies wunderte mich zuerst, denn Inge hing sehr an ihrer Mutter. Telefonierte häufig mit ihrer Mutter. Für mich blieb höchstens noch ein Gruß. Auch mit Hedwig telefonierte sie oft und lange. Nur Martin und ich mussten mit den Brosamen vorliebnehmen, die jeweils am Ende ihrer Gespräche an uns abfielen.

      Aus Inges Schrift war aber auch eine gewisse Ablehnung des Vaters herauszulesen. Das schien mir naheliegender als die negative Mutterbindung. Denn sie als die Älteste hatte gewiss die Disharmonie zwischen Karin und mir am ehesten bemerkt und, da Karin darunter mehr litt als ich, die Schuld mir zugeschrieben.

      „Weißt du“, sagte mir Inge, als ich ihr, etwas unsicher über das Ergebnis meiner Untersuchungen, die Schriftanalyse zeigte, „ich glaube, das stimmt schon. Ich habe mich so stark mit Mutter verbunden gefühlt, vielleicht sogar mit ihr identifiziert, dass ich unbewusst von ihr wegstrebte, von ihr loskommen wollte.“

      Diese und ähnliche Bestätigungen von Freunden, deren Schrift ich analysiert hatte, bestärkten mich, meine Kenntnisse und Erfahrungen weiter anzuwenden. Bald beanspruchten auch weitere Bekannte meine Dienste gegen Entgelt und gaben mir damit das Gefühl, trotz meiner Behinderung nicht nutzlos zu sein und mich sogar auf einem neuen Feld betätigen zu können.

      Der Tag unseres Unfalls hatte in fröhlicher Stimmung begonnen. Die Sonne schien früh in mein Zimmer. Weiße Föhnstreifen klebten am Himmel. Solche Tage duften nach Süden, nach Ferne. Man bleibt ein Weilchen länger am geöffneten Fenster stehen, atmet tiefer als sonst. Denkt an Angelika, schickt in Gedanken einen heimlichen Gruß und hat das Gefühl, dass er hinter jenen Hügeln ankommt, aufgenommen wird; und ein jähes Anrühren der Seele zeigt an, dass auch von dort her Gedanken auf dich zuströmen. Du schließt die Augen und weißt, dass das Bild, das für eine Sekunde in dir aufblitzt, eine Erinnerung an einen andern solchen Morgen ist. Bildest dir vielleicht sogar ein, dass diese Erinnerung von einer gleichzeitigen und gleichartigen Empfindung in jenem anderen Menschen in der Ferne ausgelöst wurde.

      An einem solchen Morgen wie dem heutigen waren Angelika und ich miteinander weggefahren in ein paar Tage gemeinsamen Urlaubs. Wir hatten einige romanische und gotische Kirchen in der französischen Schweiz besucht: Donatyre, Fribourg, Hauterive, Payerne, Romainmôtier. Es war ein echtes gemeinsames Interesse, das dann auch die nächtlichen Stunden überstrahlte. Und das Glück, das Empfinden eines von Ewigkeit vorherbestimmten Einsseins, einer schicksalhaften Zusammengehörigkeit ließ ein Gefühl von Schuld oder Sünde gar nicht aufkommen.

      An diesem Tag nun aber fuhren Karin und ich mit Inge. Unsere Tochter hatte uns über die Pfingsttage besucht, ohne ihren Mann, und wollte uns nun noch für ein paar Tage mit nach Lugano nehmen.

      Mein kurzer Gruß aus dem Schlafzimmer in den frischen Morgen hinaus und an die ferne Geliebte hatte meine heitere Stimmung nicht nur erweckt, sie hatte sich, so seltsam es klingen mag, auch auf meine Gefühle zu Karin übertragen.

      Martin war schon am Tag vorher nach Genf zurückgekehrt, wo er Romanistik studiert. Hedwig war früh zur Arbeit aufgebrochen. Karin und ich saßen noch eine Weile mit Inge am Frühstückstisch beisammen und plauderten, das heißt, es waren vor allem Mutter und Tochter, die sich unterhielten, während ich zuhörte. Jener Streit vor vier Wochen, bei dem so rasch das Wort Scheidung fiel, war, wenigstens was mich betraf, schon längst vergessen. Dass über die Pfingsttage wieder einmal die ganze Familie beisammen war, hatte uns alle glücklich gemacht.

      Schließlich machten wir uns auf den Weg. Schon bei der Einfahrt auf die Autobahn und unterwegs zum Bodensee hinab schien uns, die Menschen am Steuer ihrer Wagen führen weniger konzentriert als sonst. Vielleicht war es der Föhn oder schon wieder das Aufkommen von Stress oder auch nur ein unbewusst banges Vorgefühl auf den Alltagstrott nach dem verlängerten Wochenende. Karin saß vorne rechts neben Inge. Ich machte mich im Fond breit, saß hinter Inge und streckte meine langen Beine auf die rechte Seite hinüber.

      Der Verkehr in Richtung Chur war nicht übermäßig stark. Auf der anderen Seite flitzten viel mehr Wagen vorbei. In den senkrecht abfallenden Felsen der Kreuzberge vermeinte man, jede Kante, jede Ritze erkennen zu können. Ich blickte zwischen Inge und Karin durch die Windschutzscheibe hinaus, achtete aber nicht so sehr auf den Verkehr, sondern sah rechts Häuser und Dörfer und einen Berg nach dem andern näher auf uns zukommen. Ich hatte eben noch bemerkt, dass wir einen langsam fahrenden Wagen überholt hatten und auf der linken Spur weiterfuhren. Dann sah ich nur noch einen dunklen Schatten, der sich von rechts vor unser Auto schob. Ich hörte einen heftigen Knall, ein Krachen und den Schreckensschrei von Karin. Ich wurde herumgeschleudert wie in der Schleuderbahn auf dem Jahrmarkt. Einen Augenblick schien mir, mein Herz stehe still. Ein bisher unbekanntes Gefühl durchströmte meinen ganzen Körper bis in die Finger- und Zehenspitzen im Bruchteil einer Sekunde. Es war kein Schmerz. Dann nichts, absolut nichts. War dies der Tod?

      Ich weiß nicht, wie lange dieser Zustand der Empfindungslosigkeit dauerte. Irgendwann aber musste mein Herz tatsächlich zu schlagen aufgehört haben. Denn als ich wie aus einem traumlosen Schlaf erwachte, hatte ich in der Brust ein beengendes Gefühl, wie wenn sich ein eiserner Ring um mein Herz gelegt hätte. Unter diesem Druck musste es unmöglich sein, dass sich die Herzmuskeln überhaupt noch bewegen konnten. Doch dann schien mir auf einmal, als würde ich durch diesen beengenden Ring hindurchgeschoben, so wie man einen Finger aus einem festsitzenden Ring zieht. Noch klemmt das Gelenk fest, du hast Angst, es nicht mehr durchziehen zu können, aber auf einmal geht es doch, der Ring rutscht über das Gelenk hinweg, und du fühlst dich befreit. Ich hatte keinen Schmerz, hatte überhaupt kein körperliches Empfinden. Ich war leicht, schwerelos. Einem Raumfahrer müsste so zumute sein. Ich wurde ein Stück weit von unsichtbarer Hand in die Höhe getragen. Zuerst sah ich nur den blauen Himmel mit seinen Föhnstreifen. Dann aber bemerkte ich, dass ich über einem breiten Tal schwebte. Zu beiden Seiten sah ich Berge. Ich glaubte nicht, tot zu sein. Denn ich befand mich weder in einem Himmel noch in der Hölle, obschon ich wie in einem himmlischen Gefühl zu baden schien. Aber ich war noch auf dieser Erde, zumindest in ihrer Atmosphäre. Ich erkannte die Berge ringsum. Da waren die Kreuzberge, an denen wir vorher vorübergefahren waren, der Alvier und auf der anderen Seite, das mussten wohl die Drei Schwestern sein. Auch die Luziensteig, jene steil aus der flachen Ebene des Rheintals aufsteigende Felsformation, erkannte ich. Und unter mir sah ich den leicht gebogenen Lauf des Rheins.

      Aber dann kam es mir doch seltsam vor, wie ein Ballon über dem Tal und dem Fluss zu schweben. Sollte ich doch tot sein? Sollte dies das Jenseits sein? Aber wo sind denn die anderen Seelen? Ich war allein, verlassen. Mensch, du bis doch tot, sagte ich mir. Vielleicht bin ich unterwegs ins Jenseits. Ich wartete darauf, dass der Himmel sich öffnete. Der Himmel: Dabei dachte ich an den irdischen Himmel, dieses blaue Gewölbe über mir mit seinen Föhnstreifen. Irgendwo müsste sich ein Loch auftun, durch das ich hinausschlüpfen und in eine andere Welt hineingehen könnte. Wohin, wusste ich nicht. Ich dachte weder an einen Himmel, der das Reich Gottes sein sollte, noch an eine Hölle. Einfach an ein Jenseits, ein Unbekanntes.

      Als

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