Ein Mann zwei Leben. Martin Renold

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Ein Mann zwei Leben - Martin Renold

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die mir nahestanden, Abschied zu nehmen, überflutete mich ein beglückender Schauer. Ich dachte an Angelika. Ich wollte sie noch einmal sehen, ehe das Unbekannte mich verschlingen würde. Ich wollte noch einmal ihre weiche, beinahe singende Stimme hören, die mich so oft, ja selbst in meinen Tagträumen, fast flüsternd und doch so klar, in ihren Bann gezogen hatte.

      Ich versuchte, mir Angelika vorzustellen, wie sie an diesem Vormittag in der Küche oder im Garten arbeitete. Ich verspürte einen Zug in die Richtung ihres Hauses. Doch ich blieb an derselben Stelle schweben. Aber es war nicht so, wie ein Ballon in der Luft stehenbleibt, wenn er keinen Wind hat Es war, wie wenn ich von einer unsichtbaren Leine zurückgehalten würde. Wie ein Kinderballon, der an einem Faden festgehalten wird, oder wie ein Papierdrachen, der vom Wind in der Luft gehalten wird. Dann zog es mich auf einmal hinunter. Ich sah die Berge höher steigen, die Talsohle mit dem Fluss und den Häusern näherkommen. Unter mir sah ich die Autobahn, und ganz deutlich erkannte ich, dass da direkt unter mir etwas Schreckliches passiert sein musste.

      Auf einmal wurde ich wieder in die Höhe gehoben. Die Berge sanken zurück, die Häuser wurden immer kleiner, die Autobahn war nur noch ein schmaler Strich. Es wurde hell, viel heller, als es schon war. Ich sah eine goldene Sonne am Himmel, nicht unser Tagesgestirn, diesen glühenden Feuerball, den Mittelpunkt unseres Planetensystems. Auch sie sah ich. Aber die neue Sonne war viel heller, und doch blendete ihr Licht meine Augen nicht. Ihr heller Schein war mild. Sie sah aus wie eine große Öffnung am Himmel, mit unscharfem Rand wie bei einer Nebensonne. Ich dachte an eine Erscheinung, die ich beobachtet hatte, als ich noch ein Junge war. Damals hatte ich zufällig nach einem Gewitter zum Fenster hinausgeschaut und mit Schrecken drei Sonnen am abendlichen Himmel erblickt, jede so leuchtend hell wie die andere, und zwischen den Sonnen sah ich ein kurzes Stück eines intensiven Regenbogens. Für mich war es damals wie ein Wunder. Ich weiß nicht, ob ich mehr erschrak über die Dreizahl der Sonnen oder über die beiden Bruchstücke eines Regenbogens zwischen den Sonnen am westlichen Himmel, bog sich doch sonst bei einem abendlichen Gewitter der Regenbogen über den östlichen Himmel, der Sonne gegenüber. Was hatte das zu bedeuten? Ich bekam Angst, denn ich hatte keine Erklärung dafür. Erst später fand ich eine. Und als ich zum ersten Mal das Lied „Die Nebensonnen“ aus Schuberts „Winterreise“ hörte und den ersten Vers „Drei Sonnen sah ich am Himmel steh’n“, da durchfuhr es mich wie ein warmer Schauer.

      Die Nebensonne, die ich jetzt sah, schien mir tausendmal heller als jene Nebensonnen. Und doch flößte sie mir keine Furcht ein. Ich flog auf die Öffnung zu, aber nur langsam. Etwas hielt mich noch immer zurück. Plötzlich war mir, als sei ein Schatten vor der Öffnung vorübergeflogen, so wie wenn rasch ein Vogel oder ein Flugzeug vor der Sonne vorbeifliegt und flüchtig seinen Schatten auf einen wirft.

      Karin, dachte ich und in diesem Augenblick erkannte ich tatsächlich, dass es Karin war. Sie wandte sich nicht um. Aber ich sah wie von hinten durch sie hindurch ihr Gesicht. Es schien mir, als sähe sie jemanden, dem sie mit ausgestreckten Armen entgegenging.

      Ich wollte ihr zurufen, sie solle auf mich warten. Aber ich hatte keine Stimme. Sie wurde kleiner, durchsichtiger und verschwand, so wie ein Mensch einem im Nebel aus den Augen verschwindet.

      Und so wie das Licht erschienen war, verblasste es wieder und verschwand. Und so wie man einen Papierdrachen wieder hereinzieht, sank ich tiefer und tiefer. Ich spürte eine erst leise, dann immer stärker werdende Beklemmung in der Brust. Ich schwebte nun schon ganz nah über der Unglücksstelle. Polizeiautos standen herum, zwei Krankenwagen waren da. Eine Tragbahre stand am Straßenrand, zugedeckt mit einem weißen Tuch. Auf einer andern Bahre lag Inge. Ich sah, dass sie lebte. Als ich ganz nah über dem einen Krankenwagen schwebte, bemerkte ich eine weitere Bahre neben dem Auto. Auch sie war zugedeckt mit einem Tuch. Inges Wagen und jener, der uns gerammt hatte, und ein dritter standen ziemlich weit voneinander und arg demoliert auf der Autobahn.

      Mit einem unwiderstehlichen Sog zog es mich in den einen der Krankenwagen hinein. Dort sah ich, als ich unter der Wagendecke schwebte, meinen Körper unbeweglich auf einer Bahre liegen. Ein Arzt beugte sich über mich, und ein Sanitäter hielt meinen Arm.

      Was ich jetzt erlebte, ist kaum zu glauben. Und doch war es so. Es wurde schwarze Nacht um mich. Ich lag zusammengekauert in einer feuchten, engen Höhle, die mich von allen Seiten umschloss und mich beengte. Ich sträubte mich dagegen, doch in rhythmischen Stößen, die zuerst von längeren, dann von immer kürzeren Pausen unterbrochen waren, wurde ich zusammengepresst. Aber es war alles weich und nass um mich herum. Nach einiger Zeit wurde ich Kopf voran durch eine enge Röhre gepresst. Einen Augenblick dachte ich, meine Seele, die sich bereits vom leblosen Körper gelöst und entfernt habe, kehre durch diesen Kanal in ihn zurück. Aber ich hatte nun ja schon einen Augenblick lang, ich weiß nicht, wie lange es gedauert hatte, die Empfindung einer körperlosen Seele kennen gelernt. So konnte ich gut feststellen, dass dies nicht die Empfindung einer Seele war, die sich mit einem Körper verbindet. Es war vielmehr der Schmerz eines Körpers, dem sich in diesem Augenblick eine Seele zugesellt. Ich wurde von Händen gegriffen und aus der Röhre gezogen, und beinahe im selben Moment, wie der Druck nachließ, begann ich zu schreien. Ich war ein neugeborenes Kind. Ich wurde an den Beinen hochgehoben, mein gurgelndes Schreien befreite mich langsam von der Flüssigkeit, die mir Mund und Nase verstopfte. Dann wurde mir die Nabelschnur durchgeschnitten, und schließlich wurde ich in Wasser getaucht und von dem weißlichen Schleim befreit, der an meinem ganzen Körper klebte.

      Ich hatte – und ich erinnere mich, dass ich darüber erstaunte – nicht das Bewusstsein eines Säuglings, sondern dasjenige eines erwachsenen Menschen, oder noch deutlich ausgedrückt, mein eigenes Bewusstsein. Trotzdem hatte ich nicht das Gefühl, als erlebte ich die Geburt des Menschen, der ich war, die Geburt von Manfred Keilhofer, der soeben im Alter von zweiundfünfzig Jahren auf der Autobahn im sankt-gallischen Rheintal verunfallt war und dabei anscheinend sein Leben verloren hatte. Obwohl ich mit dem Bewusstsein dieses Manfred Keilhofer empfand, was mit mir und um mich geschah, musste der Junge, in den ich in diesem Augenblick geboren worden war, ein anderer sein.

      Mensch, dachte ich, es geschieht also doch, dass du wiedergeboren wirst, und dies im Augenblick des Todes. Da geht also deine Seele von einem verbrauchten Körper sofort in einen neuen über. Aber warum war denn Karin durch jene Öffnung im Himmel entschwunden? War sie nicht wie ich dazu verdammt, auf dieser Erde zu bleiben? Sie hatte wohl ein besseres Leben gelebt als ich, dass sie gleich in den Himmel eingehen durfte.

      Die Menschen, die um mich herumstanden, waren mir unbekannt. Erst nach einiger Zeit fiel mir auf, dass der Arzt und die Hebamme keine weißen Mäntel trugen. Ich war offenbar nicht in einer Klinik zur Welt gekommen. So hygienisch sauber schien es hier nicht zu und her zu gehen. Der Arzt trug auch keine Jacke, hatte die Hemdärmel zurückgekrempelt und trug altväterische Hosenträger, wie man das etwa in Verfilmungen alter Romane sehen kann. Ich musste auch in einem ziemlich altertümlichen Haus zur Welt gekommen sein. Und als ich neben der Frau, die nun meine Mutter war, im Bett lag und verschiedene Leute hereinkamen, die mir ebenfalls unbekannt waren, bemerkte ich, dass auch sie merkwürdig altmodische Kleider trugen, wie sie etwa zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts Mode gewesen sein mochten. Ich fragte mich, ob wohl durch den Tod die Zeit derart aufgehoben würde, dass es möglich sei, in eine frühere Zeit zurückgeboren zu werden. Die Leute, die um das Bett herumstanden und mich bewunderten, waren allem Anschein nach mein Vater, eine Tante und eine kleine Schwester von ungefähr vier Jahren.

      Ich hörte eben noch, wie der Arzt, der seine Jacke angezogen, das Köfferchen gepackt und sich zum Weggehen bereit gemacht hatte, zu meinem Vater sagte: „Ein strammer Junge. Da kann man Ihnen nur gratulieren. Ihrer werten Gemahlin natürlich auch. Wie soll er denn nun heißen?

      „Heinrich Otto“, antwortete mein Vater stolz.

      Dann schlief ich ein.

      Als ich erwachte, lag ich in einem weißen Zimmer. Ich sah über mir eine helle Decke und einen Ständer mit aufgehängten Flaschen, die Hälse nach unten, aus denen dünne

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