Ein Mann zwei Leben. Martin Renold
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„Du weißt also genau wie ich, dass es gefährlich ist, seinen Charakter damit zu entschuldigen, dass er dir von den Gestirnen vorausbestimmt sei und es nichts nütze, ihn ändern zu wollen.“
Ich wollte sie damit provozieren, denn ich hatte schon oftmals erlebt, dass, wenn ich ihr Verhalten, irgendeine impulsive Reaktion bemängelte, mit der sie bei mir oder anderen Menschen anstieß, sie sich selbst gerne darauf hinausredete, sie könne nichts dafür, sie sei nun halt mal ein Skorpion.
„Das habe ich nicht gesagt“, antwortete sie. „Die Freiheit, von der dich sprach, kann man nur im Rahmen seines Charakters beanspruchen. Den Charakter selbst kann man nicht oder nur in geringem Maße ändern. Mir kommt immer wieder ein Zitat von Goethe in den Sinn, das mir seinerzeit in der Schule bei der Lektüre des „Egmont“ einen so großen Eindruck gemacht hat, so dass ich seinen genauen Wortlaut bis heute nicht vergessen habe: ‚Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch; und uns bleibt nichts, als mutig gefasst die Zügel festzuhalten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder wegzulenken.‘ Natürlich ist der Spielraum, unseren Charakter und damit unser Verhalten zu ändern und unser Schicksal zu beeinflussen, nicht unbeschränkt. Aber wir müssen und können während unseres Lebens Millionen persönliche Entscheide treffen. Die Astrologie enthebt uns keineswegs unserer persönlichen Verantwortung. Wir dürfen also die Schuld für unser Verhalten nicht auf die Gestirne abschieben und dürfen auch nicht wie eine Maus gespannt auf den offenen Rachen der Schlange starren und wie gelähmt das Schicksal über uns ergehen lassen im Glauben, alles, was uns widerfahre, sei in den Sternen vorgezeichnet. Du siehst also, dass ich der Meinung bin, dass die Sterne nur das Grundmuster unserer Eigenschaften bestimmen, nicht aber das, was wir daraus machen.“
Ich gab endgültig auf. Auch Karin war also nicht so sehr auf die Astrologie festgefahren, dass sie mir in manchem nicht recht gegeben hätte.
So waren oft unsere Diskussionen gewesen, als wir noch diskutieren konnten, ohne dass daraus ein Streit wurde.
Jetzt, da mir das Buch über Astro-Graphologie in die Hände kam, erwachte in mir plötzlich der Wunsch, mehr über Graphologie zu erfahren. Ich bat Angelika, mir sämtliche Bücher aus der Buchhandlung zu holen, die sie dort über dieses Thema finden würde. Ich hatte jetzt ja nicht nur die Zeit zum Lesen, ich wollte mich auch gründlich in ein Gebiet einarbeiten, das ich mir vielleicht für einen kleinen Nebenverdienst nutzbar machen konnte. Dabei ging es mir weniger um meine finanzielle Lage, die so weit gesichert war, als darum, mich geistig anregend betätigen zu können und um das Gefühl, auch selbst noch etwas für meinen Unterhalt beitragen zu können.
Angelika brachte mir einen ganzen Stoß von Büchern, und ich begann noch am gleichen Tag mit meinem Studium. Ich ließ die Bücher, die für einen oberflächlichen Selbstgebrauch gedacht waren, beiseite und beschäftigte mich nur mit den ernsthaften, wissenschaftlichen Publikationen. Bald war ich so weit, dass ich einige Schriften von Freunden und Bekannten, von denen ich noch handgeschriebene Briefe besaß, analysieren konnte. Auch Hedwig und Martin gaben mir Schriftproben, als sie bei einem ihrer Besuche von meinem neuen Steckenpferd hörten.
Von Karin besaß ich nur noch einen einzigen Brief, den sie mir ein paar Jahre zuvor einmal geschrieben hatte. Ihre Schrift war nicht leicht zu entziffern.
„Wer mich liebt, kann auch meine Schrift lesen“, hatte sie oft gesagt, wenn ich mich ab und zu einmal zu ihrer Schrift geäußert hatte, was ich später jedoch wohlweislich unterließ, weil es meist in einem Ehekrach endete. „Nur du kannst sie nicht lesen, weil du mich nicht liebst. Und wer mich nicht liebt, braucht mich auch nicht zu verstehen.“
Ich nahm den alten Brief zur Hand. Jetzt, da dieser Brief das Persönlichste war, das mir von Karin geblieben, kam mir die Schrift lesbarer vor als damals. Ich begann sie zu analysieren und gab mir Mühe, wirklich nur das aus ihr herauszulesen, was in ihr steckte, und mich so wenig als möglich von dem beeinflussen zu lassen, wie ich Karin gekannt und erlebt hatte. Doch bei einem bekannten Menschen lässt es sich nie ganz vermeiden. Ja, ich empfand es sogar als Vorteil, da man doch zum vornherein weiß, wie positiv oder negativ die einen oder anderen Merkmale zu beurteilen sind. In jedem Menschen gibt es positive und negative Seiten, Stärken und Schwächen, und da manche Tugend, extrem überspitzt und verhärtet, zur Untugend wird, können positive und negative Eigenschaften in der Schrift sich oftmals an den gleichen Merkmalen zeigen. Darum muss man zuerst den Gesamteindruck der Schrift beurteilen, intuitiv ihren inneren Wert erfassen, die Persönlichkeit erkennen, die dahintersteht. Erst dann darf man ins Einzelne gehen, so oder so werten. Und auch dann noch muss sich jede Wertung von verschiedenen Anzeichen bestätigen lassen, ehe man sie äußern darf. Da wo der Graphologe bei einem unbekannten Menschen mangels ungenügender Hinweise oft eine Aussage zurückhalten oder vage formulieren muss, darf er doch bei einem bekannten Menschen sich ein Urteil bilden. Mir hat es sehr geholfen, dass ich zuerst nur Schriftproben von Bekannten analysieren konnte. Dadurch bekam ich die nötige Sicherheit, mit der ich später an die Analyse der Schriften von mir fremden Menschen herangehen konnte. Da aber Martin, Hedwig und einige Freunde, die mir ihre Schriften gegeben hatten, die Ergebnisse nachprüfen und mir ihre Richtigkeit bestätigen konnten, kam ich zu Überzeugung, dass ich auf dem richtigen Weg war. Auf jeden Fall braucht es eine gehörige Portion Intuition, um die Schrift eines unbekannten Menschen richtig beurteilen zu können.
Langsam kristallisierte sich aus Karins Schrift ein Bild heraus, das ich schließlich in einem Analysebericht niederschrieb:
„Karin legt Wert darauf, vor ihren Mitmenschen korrekt zu erscheinen und von ihnen möglichst besser beurteilt zu werden, als sie selbst es tut. Auch ihr Äußeres, Kleidung, Erscheinung, sind ihr wichtig. Doch verspürt sie oft den Drang, gegen das Übliche, Herkömmliche zu rebellieren, sich zumindest innerlich dagegen aufzulehnen und sich dort, wo ihr Ruf nicht auf dem Spiele steht, so zu verhalten, wie die Gesellschaft es nicht erwartet.
Karin besitzt ein gesteigertes Exklusivitätsgefühl. Sie ist stolz auf ihre Einzigartigkeit. (Tatsächlich hat sie nichts so sehr geärgert, wie wenn sie mit einem anderen Menschen verwechselt wurde oder wenn ihr jemand berichtete, er sei einem Menschen begegnet, der ihr gleiche.) Sie flieht vor sich selbst, will sich aber auch den andern nicht aufschließen. Sie lässt die Mitmenschen nur schwer an sich heran. (‚Mich kann niemand kennen, außer er liebt mich.‘) Trotzdem besteht ein starkes Bedürfnis nach Kontakt.
Ihr Überlegenheitsgefühl ist Ausdruck einer gewissen Unsicherheit. Dem Wunsch nach Begegnung mit den Mitmenschen steht die Angst, die innere Unsicherheit zu verraten, gegenüber.
Sie ist intelligent, besitzt Bildung, Kultur, ästhetisches Bedürfnis, künstlerische (musikalische) Begabung. Sie ist bewegungs- und reiselustig.
Karin muss sich davor hüten, dass ihr kritischer Sinn nicht in Intoleranz und Unversöhnlichkeit ausartet.
Die Angst, die Zuneigung der anderen zu verlieren, führt zu einem Besitz-ergreifen-Wollen. (Gerade das war es, was mich am meisten von ihr entfernte.) In ihrer Denkweise ist sie ziemlich subjektiv, anderseits aber doch auch nüchtern im Denken, scharfsinnig. Ihre Schrift zeigt, dass die Hand ihren Gedanken kaum zu folgen vermag. Sie ist eigenwillig, oft unberechenbar, lebhaft, spontan, impulsiv.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es sich um einen Menschen mit großen inneren Konflikten handelt, der voller Widerspruch ist. Gefühl und Verstand bekämpfen sich eher, als dass sie sich ergänzen. Depressionen, Lebensangst auf der einen Seite, Beweglichkeit und – allerdings oft aufgestaute – Energie auf der andern Seite, führen nicht zum Ausgleich, sondern eher zum Konflikt.“
Erst gegen Ende der