Ein Mann zwei Leben. Martin Renold
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„Nein, nein, ich denke, das wäre nicht gut für sie. Sie muss sich an die neue Umgebung gewöhnen und auch an mich. Jetzt wird es ihr leichter fallen, sich einzuleben, als wenn sie wieder zur Schule gehen muss. Und wenn sie von ihren Großeltern zurückkäme, würde sie sich wie ein Fremdling, ein Eindringling bei uns fühlen und spüren, dass du im Erfahren und Einleben unseres Zusammenseins einen Vorsprung hättest. Wir dürfen sie nicht ausschließen aus unserer Gemeinschaft, unserer Familie. Hast du es ihr denn schon gesagt, dass sie in Zukunft hier wohnen und ihren Vater nur noch ab und zu übers Wochenende sehen wird?“
„Ja, ich habe sie darauf vorbereitet“, entgegnete Angelika. Und sie war dankbar, dass ich Tilla hier behalten wollte.
„Glaubst du“, fragte ich, „dass sie sich ein bisschen glücklich fühlen wird bei uns? Sie wusste ja bis vor kurzem noch gar nicht, dass es mich gibt.“
„Ich glaube schon, dass sie sich gut einleben wird. Übrigens stimmt es nicht, dass Tilla nichts von dir wusste. Ich habe es dir nie gesagt, um dich nicht zu beunruhigen. Einmal, als Christian fort war und du mich an einem Abend besuchtest, ist Tilla aufgewacht, und sie ist leise zu uns ins Wohnzimmer heruntergekommen. Wir saßen nebeneinander, und du hattest den Arm um meine Schulter gelegt. Wir hatten jene CD mit dem „Freischütz“ aufgelegt, die du mir einmal geschenkt hast, nachdem wir miteinander die Oper besucht hatten. Wir lauschten stumm der Musik. Darum hörten wir Tilla nicht. Aber ich sah sie hinter der Wand bei der Treppe hervorgucken. Vielleicht erinnerst du dich, dass ich aufgestanden bin und sagte, ich wolle nachsehen, ob Tilla schlafe. Da ist sie rasch in ihr Zimmer hinaufgehuscht. Und dann hat sie gefragt, wer du bist. Sie habe gemeint, du wollest mir einen Kuss geben und wir würden uns verloben. Du bist in jener Nacht nicht bei mir geblieben. Ich glaube, du hast gespürt, dass ich es nicht wollte, weil Tilla im Haus war. Ich habe ihr gesagt, du seist ein guter Freund und du habest mich auf der Durchreise einmal besuchen wollen. Am andern Tag ist Christian zurückgekehrt. Beim Nachtessen hat Tilla auf einmal gesagt ‚Ich glaube, Mami hat heute den ganzen Tag an einen anderen Mann gedacht.‘“
„Und wie hat Christian reagiert?“, fragte ich, Schlimmes ahnend.
„Er hat es geflissentlich überhört und ist auch, nachdem Tilla zu Bett gegangen war, nicht darauf zurückgekommen.“
„Und Tilla?“, fragte ich.
„Ich weiß es nicht sicher, ob sie dich wiedererkannt hat. Es ist ja schon einige Zeit her, und sie hat nie mehr davon gesprochen. Vielleicht hat sie es vergessen. Vielleicht aber trägt sie die Erinnerung in sich herum. Wer weiß das schon?“
„Weißt du“, sagte ich zu Angelika ein wenig später, „eigentlich bewundere ich Christian, dass er die Größe und die Kraft aufbringt, euch gehen zu lassen, und dass er in die Scheidung einwilligt.“
„Die Größe ja, aber ob er auch die Kraft besitzt, weiß ich nicht. Er war immer der Schwächere von uns beiden. Aber er hat schon lange gespürt, dass er mich verloren hat. Als ich ihm von deinem Unfall erzählte und von Karins Tod, hat er sofort auch alles andere gewusst. Er hat es mir leicht gemacht. ‚Nun wirst du zu ihm ziehen wollen‘, hat er zu mir gesagt. Jetzt, wo er sicher wisse, dass es so ist, sei es wohl besser, wir zögen die Konsequenzen. Wir haben zuerst gar nicht viel darüber reden müssen. Leicht ist es ihm sicher nicht gefallen. Ich glaube, er wich diesem Thema seit unserem Wiedersehen aus, zu dem er ja damals selbst den Anstoß gegeben hat, weil er meinte, ich würde nach so vielen Jahren, in denen wir uns nicht begegnet sind, von einer Illusion geheilt. Aber dann schloss er die Augen, weil er Angst hatte, die Folgen sehen zu müssen. Hätte er sie gesehen und die Gewissheit bekommen, dass wir uns immer noch lieben, hätte er schon früher die Scheidung gewollt. Aber wir haben nie mehr von dir gesprochen. Ich denke, er tat es bewusst nicht, weil er lieber in der Ungewissheit als ohne mich leben wollte. Jetzt, ein paar Tage nachdem er die Neuigkeit verarbeitet hatte, sprachen wir miteinander offen darüber. Da mussten wir ja über seine und Tillas und auch meine Zukunft reden.“
Draußen regnete es in Bindfäden. Es war einer von Tillas letzten Ferientagen. Wir saßen im Wohnzimmer und hatten die Vorhänge gezogen, um die vom grauen Himmel niederhängenden Striemen nicht sehen zu müssen. Doch das lockere Gewebe machte für uns die Welt da draußen zu einem tristen, grauen Schleier und hüllte uns in ein wehmütig stimmendes Dämmerlicht.
Tilla allerdings schien sich von dieser Stimmung nicht anstecken zu lasen. Wir hatten das „Eile mit Weile“ vor uns ausgebreitet, und Tilla war sichtlich vergnügt und zufrieden, dass ich mitspielte.
„Morgen wird dich Papa holen, und dann darfst du den ganzen Samstag und Sonntag bei ihm bleiben“, hatte ihr Angelika eröffnet.
Das nahm ihr ein wenig die Bangigkeit vor dem Schulanfang in der neuen, unbekannten Schule. Sie jubelte und war glücklich und freute sich auf das Wiedersehen mit ihrem Vater.
Tilla hatte in dieser Ferienwoche einiges Zutrauen zu mir gefasst. Mir schien, sie betrachte mich nicht als den Feind, der ihrem Vater die Frau weggenommen hat und um dessentwillen sie von ihrem Vater getrennt leben muss. Für sie war ich vor allem ein kranker Mann, der die Hilfe und Fürsorge ihrer Mutter brauchte. Alles andere war für sie fremd und ohne Bedeutung.
Tilla war ein kleiner Schalk. Ihre Augen blitzten und leuchteten, und die Haltung ihres Körpers verriet die ganze aufgestaute Spannung, wenn sie einen beim Spielen hinters Licht zu führen versuchte und sie mit spitzbübischer Aufmerksamkeit darauf wartete, dass man es nicht merke. Dann konnte sie in ein befreiendes, fröhliches Lachen ausbrechen. Auch mir gegenüber hatte sie gar keine Scheu. Meine Behinderung schien sie nicht zu stören. Sie gab sich ganz natürlich. Und das gefiel mir. Zugleich entlastete es mein Gewissen, schuld daran zu sein, dass sie ihren Vater, ihr Heim, ihre Kameraden und Freundinnen hatte verlassen müssen
Während ich sie ansah und ihre Freude beobachtete, wenn sie einen meiner Steine ins Haus zurückversetzen konnte, durchzuckte es mich plötzlich wie ein Blitz. Es war, als brause eine Meereswoge durch mein Gehirn. Ich hörte ihr Rauschen in meinen Ohren. Mein Gesichtsfeld zog sich zusammen. Ich sah nur noch Tillas Gesicht und dann eine offene Wunde in ihrer Stirn, aus der Blut herausquoll, das über ihre Wange floss und auf ihre Bluse tropfte. Ich wollte aus dem Rollstuhl aufspringen, Angelika am Arm fassen, aufschreiend auf die Wunde zeigen. Aber ich konnte weder das eine noch das andere tun. Ich war wie gelähmt. Es waren nicht die amputierten Glieder, die mich hinderten, nicht der Schreck, der jeden Laut in mir erstickte. Ich spürte auf einmal, dass ich die Augen geschlossen hatte und sich alles wie ein Traum hinter meinen Lidern abspielte. Und doch hatte ich das Gefühl, wach zu sein, nicht zu schlafen. Ich sah alles so deutlich wie mit offenen Augen. Nur war es jetzt nicht mehr ganz dasselbe Gesicht, das ich sah. Zwei kleine Zöpfchen, die mit rosaroten Haarmaschen geschmückt waren, hingen dem Mädchen über die Ohren herunter. Und ich wusste eigenartigerweise sofort, dass dieses Kind Erna hieß. Es trug ein graues, langes Röckchen mit Spitzen und Rüschen und einem hohen Kragen. Erna griff sich an die Stirne, und das Blut beschmutzte ihre Hände. Ich wusste nicht, schrie das Mädchen so markdurchdringend wegen des Schmerzes oder wegen des Anblicks des niederrinnenden Blutes. Ich selber war ein Junge von vielleicht sieben oder acht Jahren. Wir standen uns auf einer Straße gegenüber. Ich hielt eine Schnur in der Hand, und am Ende der Schnur