Kriminalisiert. Hans-Joachim Schmidt
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Dass jener Gerald Falk, der schon seit einem Jahr als Radsatzschleifer für die BVG arbeitete, der Arbeit seit Wochen fernblieb, wusste ich nicht. Auch wusste ich nicht, dass das einen Straftatbestand in der damaligen DDR darstellte und bis zu fünf Jahren Haft nach sich zog.
Übrigens nahm sich dieser Gerald Falk schließlich das Leben. Tage zuvor sprach ich noch mit ihm. Er war richtig niedergeschlagen, weil er nicht zur Beerdigung seines Vaters nach West-Berlin durfte. Allerdings konnte ich aus unserem Gespräch nicht erkennen, dass er sich da schon für den Freitod entschieden hatte.
Erschwerend war meine Lage dadurch, dass ich der Abteilung für Innere Angelegenheiten unterstellt war. Diese Abteilung kümmerte sich um Kriminelle und um die, die es ihrer Meinung nach werden könnten. Ich selbst tendierte nie zu solchen Personenkreisen. Aber mit dieser Ansicht stand ich wohl, bei den Behörden, alleine da.
Und da war noch das Ministerium für Staatssicherheit, das sich für mich brennend interessierte und immer wieder einmal zu Gesprächen auftauchte.
Im Prinzip fingen die Besuche des MfS schon nach der Musterung an.
Ob nun diese Verpflichtung von drei Jahren den Ausschlag für das Interesse des MfS an mir gegeben hatte, kann ich nicht hundertprozentig sagen, aber sie führten dies als einen der Gründe an, als sie mich das erste Mal aufsuchten. Damals kamen sie noch ganz unverfänglich ins Heim und befragten mich. Schon damals wollte ich nichts über meine Heiminsassen preisgeben. Nicht, dass es da nichts zu erzählen gegeben hätte, aber das waren Geschichten, die nur uns Kinder etwas anging und niemanden anderen zu interessieren hatten.
Vor Silvester noch, also Ende Dezember 1973, bekam ich den vorerst letzten Besuch eines Herrn des MfS. An jenem Tag kam ich gerade von einem Freund. Wir mussten einige Dinge besorgen, wegen der anstehenden Silvesterfeier.
Jener Stasimann stand schon vor der Hofeinfahrt. Als er mich sah, sprach er mich an und fragte: „Herr Schmidt?“
„Ja. Wer, bitte, sind Sie“, fragte ich höflich.
Er stellte sich zwar vor, aber ich verstand nicht genau, was er sagte, und schon gar nicht, was er von mir wollte. Dass er eventuell von der Firma sein könnte, ahnte ich schon.
„Ist es wirklich so wichtig, dass Sie mich schon im Hauseingang abfangen müssen?“, wollte ich wissen. Denn ich hatte noch einiges andere zu tun.
„Herr Schmidt, wenn es nicht so dringend wäre, würde ich bestimmt nicht hier auf Sie warten. Immerhin stehe ich schon eine gute Stunde hier und warte geduldig auf Sie.“
Das muss ja besonders dringend sein, wenn der seit einer Stunde hier herumlungert, dachte ich mir. Allerdings war ich mir jetzt nicht mehr so sicher, ob er einer von diesen vielen Stasileuten war. Irgendetwas war anders bei dem. Schließlich bat ich ihn, mit raufzukommen. Ich bot ihm freundlich einen Tee an, denn anständigen Kaffee gab es noch immer nicht oder er war mir immer noch zu teuer. Und den, den mir damals der Oppelmann mitgebracht hatte, hielt nicht all zu lange. Auf sein Nicken hin machte ich uns einen schwarzen Tee mit Zitronat, denn auch Zitronen waren nur durch „gute Beziehungen“ zu bekommen. Wie wir so unseren Tee schlürften, kam er auch gleich zur Sache.
„Herr Schmidt, oder darf ich Joachim zu Ihnen sagen?“
„Wie Sie möchten“, antwortete ich.
„Joachim, wie ich weiß, haben Sie gerade Ihre Lehre abgeschlossen.“
„Im Prinzip schon, aber ich muss noch warten, bis die Facharbeiterbriefe ausgehändigt werden“, unterbrach ich ihn.
„Da sagen Sie mir nichts Neues. Mich interessiert nur eins, haben Sie sich schon Gedanken gemacht, was Sie später mal machen wollen?“
„Ja“, sagte ich, „nach der Lehre werde ich zur Armee gehen und dann möchte ich gern die 12. Klasse nachmachen und, wenn alles gut geht, dann studieren.“
„Das hört sich ja prima an, das alles können Sie auch direkt bei uns haben. Das heißt, wenn Sie gut mit uns zusammenarbeiten und politisch stabil sind, kommt es ganz automatisch, dass wir Sie zu einem Studium an eine unserer Hochschulen delegieren.“
„Wer ist uns“, wollte ich genau wissen, obwohl ich schon von anderen Besuchen her ahnte, wer den geschickt haben könnte. All zu offensichtlich war deren Muster, Leute zu rekrutieren. Und was er mit „politisch stabil“ meinte, kannte ich aus meiner Schul- und Lehrausbildung.
„Wir sind die Staatssicherheit des MfS“, vervollständigte er sein uns.
Wie sollte das auch anders sein, dachte ich mir. Dann fragte ich, als wenn ich nicht wusste, worauf das hier hinauslaufen würde: „Kann man das als das verstehen, wie es der Name schon sagt?“
„Ja, Joachim, wir sind für die Sicherheit des Staates der DDR zuständig.“
Und ich stellte mich noch blöder, in der Hoffnung, diese Typen ein letztes Mal sehen zu müssen. „Wäre ich dann so was wie ein Spion?“
„Kommt darauf an, welche Aufgaben man Ihnen zuteilt.“
„Und wie sind Sie gerade auf mich gekommen? Bisher habe ich doch noch nichts in der Richtung geleistet.“
„Das war nicht besonders schwer. Sie sind im Heim aufgewachsen, also im Sinne des Sozialismus erzogen worden, Sie haben weder in West-Berlin noch in Westdeutschland Verwandtschaft, Sie werden demnächst ihren Facharbeiterbrief in den Händen halten und Sie haben sich für drei Jahre bei den Streitkräften verpflichtet. All diese Ihre Errungenschaften machen Sie prädestiniert für uns, Sie in unseren Reihen zu sehen.“
„Und das reicht Ihnen aus? Sie wissen doch gar nicht, was ich für ein Mensch bin. Außerdem, wenn Sie meine Heimerziehung als im Sinne des Sozialismus sehen, dann ist das nicht gerade ein gutes Aushängeschild für den Sozialismus. Solche Sprüche sollten Sie sich wirklich verkneifen, wenn Sie mit dieser Materie nicht vertraut sind.“
„Na, na, na, das hört sich aber nicht gut an. Da muss wohl was in meinen Aufzeichnungen nicht stimmen. Aber ansonsten weiß ich so ziemlich alles über Sie. Ich kenne alle Ihre Unterlagen, angefangen von Ihrem Heimaufenthalt, der vielleicht lückenhaft ist, wie ich erkennen muss, bis hin zu Ihrer Lehre und zu dem, was Sie sonst so machen.“
„Dann haben Sie folglich auch meine Akte von der Abteilung für Innere Angelegenheiten eingesehen, oder?“
„Natürlich. Nur frage ich mich, warum Sie dort überhaupt registriert sind.“
„Das allerdings frage ich mich auch. Und was genau soll mein Aufgabengebiet sein, wenn ich bei euch angestellt bin?“
„Zur Anstellung wird es erst mal nicht kommen Herr Schmidt. Zunächst müssten Sie sich bewähren. Das heißt, in Ihrem speziellen Fall, dass Sie uns Berichte über Ihren Freundes- und Bekanntenkreis liefern müssten, bevor wir Ihnen vertrauen und Ihren Wünschen entsprechen können.“
„Berichte! Dann wird nichts daraus. Ich scheiße doch niemanden an und schon gar keine Freunde. Das müssten Sie eigentlich wissen.“
„So