Götter, Gipfel und Gefahr. Christina Hupfer
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Читать онлайн книгу Götter, Gipfel und Gefahr - Christina Hupfer страница 5
Ich tauchte ein in den Schutz meines Zeltes, setzte mich auf die Matratze und hielt mir erst mal den surrenden Kopf. „Cara, bist du eigentlich noch zu retten?”, fragte ich mich kurz. Aber dann warf ich alles, was mir hilfreich erschien, in einen Stoffbeutel. Alle restlichen Müsliriegel, eine angefangene Packung Kekse, einen schrumpeligen Apfel, eine große Flasche Wasser, das kleine Stückchen Seife aus der Fährkabine, ein Handtuch und den kleinen Geldbeutel, den ich als Mitbringsel auf dem bezaubernden Markt in Korinth erstanden hatte. Ich zählte mein letztes Kleingeld, 27,65 Euro, und nach kurzem Zögern steckte ich es in die Börse. Dann schlüpfte ich in meinen Bikini, schnappte meine Strandtasche, stopfte den Beutel hinein und verschwand mit einem gespielt lässigen „Tschüss, ich geh dann mal”.
Kaum außer Sicht begann ich die paar Meter zu Strand zu laufen. Die meisten Sonnenbadenden und Strandläufer waren schon verschwunden und das, obwohl die Sonne noch ordentlich wärmte und das seidenweiche Wasser zu einem erfrischenden Bad verlockte.
Ich lies meine Augen über den fast verlassenen Strand gleiten und sah nirgends einen kleinen Jungen. Irgendwie war ich gleichzeitig besorgt, aber auch sehr erleichtert. Er wird sich schon irgendwie durchschlagen – so Straßenkinder sind ja wohl hart im Nehmen, dachte ich, atmete tief durch, glitt langsam in die kühlen Wellen, ließ mich auf dem Rücken treiben und versuchte, das Gedankenkarussell abzustellen. Doch so etwas wie eine innere Ruhe wollte sich nicht einstellen.
Ich beendete mein Bad, setzte mich auf ein Stück dickes Treibholz und ließ meine Blicke nochmals den Strand auf und abwandern. Da, da war doch was! Am linken Ende des Strandes bewegte sich einer der dunklen Felsen, die die Bucht einrahmten. Tja, dann. Ich erhob mich, packte meine Tasche und stapfte langsam darauf zu.
Er hatte wohl versucht sich zu waschen, denn die paar Fetzen, die seine Kleidung darstellten, klebten nass an seinem mageren Körper. Misstrauisch und sichernd wie ein wildes Tier blickte er mir aus umschatteten, zusammengekniffenen Augen entgegen. Ich hielt ihm den gefüllten Beutel hin: „Da, das ist für Dich.” Er schluckte krampfhaft und griff vorsichtig danach.
„Thank you, Danke”, glaubte ich zu hören.
„Ja, dann...”, sagte ich. „Alles Gute.”
Er drückte sich den Beutel an die Brust. „Adaggsgsgaqr.” antwortete er leise.
„Oh, also tschüss.” Zögernd drehte ich mich um und lief Richtung Zeltplatz. Mist, Mist, Mist!
Aber was sollte ich denn tun? Ich konnte ihn ja schlecht einpacken wie einen Sack Orangen. Geschweige denn mit nach Hause nehmen. Ich war hier in einem fremden Land. Ich lief schneller. Er würde schon zurechtkommen. Immerhin war er den gruseligen Kerlen entkommen.
Gegen meinen Willen blickte ich nochmals zurück. Wie verloren stand seine kleine Gestalt neben den großen Felsen. An einer Hand baumelte die erbärmliche Tüte.
„Kalispera, ich bin Cara”, sagte ich, als ich wieder bei ihm angelangt war und hielt ihm meine Hand hin. Eine Schönheit war der kleine Kerl ja wirklich nicht. Ziemlich große Zähne dominierten in seinem schmalen Gesicht und über den leicht abstehenden Ohren lockten sich dunkle, speckige Strähnen, mit denen das Meerwasser nicht fertig geworden war.
„Bbsbgschkova”, drang an mein Ohr. Oh jemine – das war definitiv kein Griechisch. Wobei mir das auch nicht viel geholfen hätte. Wie sollte ich nur meine vielen Fragen loswerden? Woher kommst Du? Wo sind Deine Eltern? Wie kann ich Dir helfen? Und meine Fähre fährt morgen Abend. Punkt.
Entmutigt murmelte ich:
„Und Du sprichst ganz sicher auch noch perfektes Hochdeutsch.”
„Ganz klein. Danke viel”, hörte ich. Hörte ich richtig? Der Junge sprach deutsche Worte!
„Also, ich bin Cara”, sagte ich nochmals. „Und wie heißt Du?”
„Ich, Lorik“, antwortete er feierlich und hielt mir nun auch seine Hand hin.
Es stellte sich allerdings heraus, dass das wohl auch die meisten deutschen Worte waren, die sein Wortschatz hergab. Doch englische Brocken hatte er einige in seinem Repertoire und der liebe Gott hat uns, Dank sei Ihm, auch noch Hände und Füße gegeben. Und Bleistift und Papier. Das Reisetagebuch, ein Geschenk meiner Mutter, wartete schließlich seit Anfang unseres Urlaubs in meiner Strandtasche auf Einträge. Und so gestaltete sich unser „Gespräch” doch noch recht flüssig. Ich setzte mich auf die warmen, rund geschliffenen Kieselsteine des Strandes und lud ihn ein, sich neben mich zu setzen. Bald darauf war mein Block gefüllt wie ein Comic (wobei die besseren Zeichnungen ganz sicher nicht von mir waren) und ich reimte mir die ganze Geschichte zusammen.
Lorik war gerade erst acht Jahre alt, als fast seine ganze Familie, mit der er in den Bergen in der Nähe von Tirana (der Hauptstadt Albaniens) gewohnt hatte, während einer Naturkatastrophe ums Leben kam. Das war ungefähr zwei Jahre her. Die Hälfte des Dorfes war damals anscheinend bei diesem Bergsturz vernichtet worden. Als er am Abend der Katastrophe mit dem Schulbus nach Hause gekommen war, hatte er sein Dorf nicht mehr erkannt. Dort, wo er gewohnt hatte, wo die Mutter normalerweise mit dem Abendessen wartete, wo seine Freunde spielten und wo die Großmutter zur Nacht die haarsträubendsten Geschichten erzählte, lag nur noch ein riesiger Schlamm und Schutthaufen. Anstatt der Eltern hatten Rettungshelfer die verstörten Kinder in Empfang genommen und hatten versucht, sie so schnell wie möglich bei Verwandten unterzubringen. Und das war bei Lorik ein Problem gewesen. Es gab zwar noch einen Onkel, der aber bei der Staatspolizei eine wichtige Position bekleidete und der sich deshalb nicht um den Jungen kümmern konnte. Doch eine befreundete Nachbarsfamilie, die von dem Unglück verschont worden war, hatte den Jungen bei sich aufgenommen. So konnte er weiter in die Schule gehen und der Onkel bezahlte den guten Leuten die Unkosten. Das hatte anscheinend auch lange Zeit problemlos funktioniert, aber vor ein paar Monaten war der Pflegevater arbeitslos geworden. Er hatte zu trinken angefangen und war richtig bösartig geworden. Dann hatte er seine Kinder und auch Lorik aus der Schule genommen und hatte sie gezwungen, in einem entlegenen Weiler Ziegen zu hüten und auf dem Acker der Familie zu arbeiten. Lorik hätte gerne seinen Onkel um Hilfe gebeten, aber in diesem Nest gab es weit und breit keinen Telefonempfang. Dann vor einer Woche hatte er die unerwartete, aber gute Nachricht bekommen, sein Onkel hätte für ihn einen Platz in einem Internat organisiert. Er hatte sich so sehr darauf gefreut, mit anderen Kindern lernen zu dürfen und diesem verhassten Flecken und dem unerträglichen Nachbarn den Rücken kehren zu können.
Zwei Tage später schon wurde er frisch herausgeputzt mit seinem kleinen Koffer einem Paar übergeben, das ihn in die Stadt mitnehmen und im Internat abliefern sollte. Seine Pflegeeltern hatten ihm zwei neue Hemden, eine neue Hose, Socken und Unterwäsche in den Koffer gepackt und von den netten Leuten, die ihn abholten, bekam er sogar ein Paar total neue Turnschuhe geschenkt, die er sofort anziehen durfte. Er stieg zu Ihnen ins Auto, es gab zu essen und zu trinken, – und dann wusste er nichts mehr, bis er in einem fensterlosen, verschlossenen, nur von einer einzelnen Glühbirne erhellten Raum aufwachte. Mit ihm saßen beziehungsweise lagen noch zwei weitere verängstigte Kinder in diesem Gefängnis. Ihnen hatte man wohl ungefähr das Gleiche erzählt und alle ihre wenigen Habseligkeiten waren verschwunden. Später, sie wussten nicht wie viele Tage vergangen waren, sind sie bei Nacht auf ein Schiff gebracht und dort in ein dunkles Loch gesteckt worden. In einem kleinen Hafen wurden sie dann in einen Lieferwagen „umgeladen”.
Wenn ich das alles richtig interpretiert hatte, waren die Kinder dazu wieder mit einem Mittel in einer Mahlzeit oder einem Getränk betäubt worden. Lorik musste sich jedenfalls erbrechen, dadurch wirkte es bei ihm nicht so stark wie bei seinen Leidensgenossen und er konnte im Hafen von Patras entwischen. Der Junge kämpfte vergebens gegen die Tränen, wischte sich die Augen und schnäuzte