Verblassende Spuren. Ursula Reinhold

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Verblassende Spuren - Ursula Reinhold

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nicht lange ausüben können. Denn schon am 26. Juni 1935 wurde die Arbeitspflicht im Reichsarbeitsdienst für Männer und Frauen zum Gesetz erhoben. Männer und Frauen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren konnten nunmehr für ein halbes Jahr wie Rekruten eingezogen und zu verschiedenen Arbeiten eingesetzt werden. Aber da war sie erst 16 Jahre alt und unterlag wahrscheinlich noch nicht den speziellen Bestimmungen des Deutschen Frauenarbeitsdienstes, der vorsah, dass Frauen zu Arbeiten in Hauswirtschaften eingesetzt werden konnten. Diese Frauen mussten das Emblem des Deutschen Frauenarbeitsdienstes tragen, während die Männer auf dem Arm das quadratische Emblem mit dem Spaten trugen, der von zwei Ähren flankiert war. Es kann sein, dass es sie mit ihren neunzehn Jahren traf, als diese Verordnung am 22. Juni 1938 perfektioniert wurde, um in Vorbereitung auf den Krieg die totale Verfügungsgewalt des Staates über das Arbeitskräftereservoir ausdehnen und nunmehr jeden im arbeitsfähigen Alter heranziehen zu können. Wie lange sie ihren Beruf hat ausüben können, ist mir nicht bekannt, aber ich könnte mir vorstellen, dass ihr die Mutter mit Hilfe eines Arztes Hilfestellungen gab, um der drohenden Arbeitsdienstpflicht zu entgehen. Den Bruder, meinen Vater hat sie wohl damals nicht konsultiert, vielleicht aber doch. Möglicherweise zeigte er wenig Verständnis für die verwöhnte Schwester, die sich anstrengender Arbeit entziehen wollte. Putzmacherin war sicherlich ein Beruf, unter dem er sich nicht sehr viel vorstellen konnte, Hüte mag er als weitgehend entbehrliche Kleidungsstücke empfunden haben, wie ich ihn kenne. Wahrscheinlich hat er dem Beruf seiner Schwester nicht unbedingt Hochachtung entgegengebracht.

      Er selbst war nicht unzufrieden damit, dass er nach den langen Arbeitslosenjahren endlich eine feste Anstellung gefunden hatte. Ja, es steuerte alles auf einen Krieg hin, das sah er, das lag für ihn mit seiner kommunistischen Überzeugung auf der Hand. Denn er baute seit 1934 bei Gaubschat an Geländefahrzeugen und seit 1935 bei Henschel an Flugzeugen. Ja, es wird Krieg geben, sagte er, aber er verdiente gut dort und das war auch nötig nach der langen Arbeitslosenzeit, wie die Mutter betonte. Sie konnten sich Wohnzimmermöbel anschaffen damals, die Laube, in der sie seit fast zehn Jahren wohnten, wurde leidlich winterfest gemacht in dieser Zeit.

      Aber die jüngste Schwester war durchaus im Blickfeld meines Vaters, wie das Familienfoto von 1939 verrät. Manchmal kam sie auch zu Besuch nach Baumschulenweg, in den kleinen Garten, wo der Bruder mit Familie eine Laube bewohnte. Friedchen habe sich über das kleine Mädchen gefreut, die Nichte, die 1938 geboren wurde und nun schon laufen konnte, erzählt mir mein Bruder, der noch eine direkte, wenn auch spärliche Erinnerung an die Tante hat. Meist war es Sommer, wenn die junge Frau den Bruder und die Schwägerin besuchte. Was sie gemacht haben bei solchen Besuchen, frage ich. „Nicht viel. Meist lag sie im Liegestuhl und sonnte sich und redete mit der Schwägerin.“ Worüber sie gesprochen haben? Er weiß es nicht, er hat nicht teilgenommen an solchen Gesprächen, er war damals ein heranwachsender Junge, den anderes interessierte und den die junge Frau auch wenig beachtet haben wird. Doch manchmal habe sie sich ihm zugewandt, ihn geneckt. Eine richtige Lachtaube sei sie gewesen.

      Sie war leichtlebig, lachte und tanzte, und vielleicht sprach sie auch gern über ihre Vergnügungen. Und vielleicht hat sie Jazz und Swing gehört und sich entsprechende Schallplatten besorgt, denke ich mir, und auch solche Vorlieben waren Gründe, dass man in Lagern enden konnte, damals.

      Die Arbeitsverweigerin

      Nach allem, was sich in den Erzählungen der Familie über sie erhalten hat, war sie kein Mensch, der aus politisch bewussten Motiven heraus handelte. Aber es ist auch durchaus möglich, dass niemand so recht Bescheid über sie und ihre Motive wusste. Sie galt als verwöhnt, eigenwillig, folgte eigenen Interessen. Worin die im Einzelnen bestanden, ist wahrscheinlich nicht mehr herauszubekommen, aber vielleicht lässt sich doch einiges über die Vorgänge ermitteln, die ihrer Einlieferung ins Konzentrationslager vorausgingen. Ich mache mich auf den Weg, suche in den Archivalien, die im Berliner Landesarchiv aufbewahrt werden, auch die Akten der Berliner Gestapo-Behörden vermute ich dort und erhoffe Einsicht in Unterlagen, die mir Aufschlüsse über die Vorgänge vermitteln, die ihrer Festnahme vorausgegangen sind.

      Im Landesarchiv Berlin am Eichborndamm erfahre ich, dass von den Akten der Berliner Leitstelle der Gestapo nicht mehr viel vorhanden ist. Sie sind teils durch Kriegseinwirkungen zerstört und teils durch die Gestapo selbst vernichtet worden, als die Zeit ihrer Schreckensherrschaft zu Ende ging. Lediglich Splitter sind erhalten geblieben, die mitunter als Bestandteile von Aktenvorgängen anderer Behörden zu finden wären, die beispielsweise der Justiz, dem Reichssicherheitshauptamt oder auch anderen Ministerien zuzuordnen sind. Die ersten Recherchen in den Unterlagen der Justiz, in Hinterlassenschaften der Berliner Gefängnisse, bleiben ohne Ergebnis. Auch Nachforschungen im Bundesarchiv, wo entsprechende Unterlagen in der Abteilung Reich ebenfalls nur als sogenannte Splitterakten des Gestapo-Bestandes vermutet werden können, bringen keinen Erfolg. Keine Spur von ihr in den bürokratischen Hinterlassenschaften jener Jahre.

      Was ist ihrer Einlieferung vorausgegangen und wie vollzog sie sich? Ist sie bei einer Nacht- und Nebelaktion abgeholt und sofort auf einen Transport geschickt worden? Hat man sie zu Hause bei den Eltern aus der Wohnung geholt oder aus dem Betrieb, in dem sie tätig zu sein hatte? Hatte man sie zuvor zur Polizei oder Gestapo bestellt, war sie verwarnt worden? Ich fürchte, nichts mehr werde ich in Erfahrung bringen können, über die Art und Weise, wie ein Mensch plötzlich mit oder ohne Vorwarnung verschwand, ins Lager kam und nie mehr zurückkehrte. Wahrscheinlich werde ich mich mit den desperaten Überlieferungen zufrieden geben müssen, die es in der Familie gibt.

      Mein Vater, ihr großer Bruder als politisch wachster Kopf der Sippschaft, sprach davon, wenn auf sie die Rede kam, dass man sie für die Arbeit in der Rüstungsindustrie verpflichtet habe, und dort habe sie gebummelt, „vielleicht auch die Arbeit verweigert, möglich wär´s“. Meine Mutter ergänzte solche Aussagen mit dem Stoßseufzer: „Ach, sie war ja so verwöhnt!“ Und von meinem Bruder höre ich, auf meine Nachfrage nach einem Liebsten oder einem Freund, dass es wohl einen Mann in ihrem Leben gegeben habe. Allerdings scheint ihn niemand gekannt zu haben, auch die Großmutter sprach nur in Andeutungen über ihn. Der Bruder beantwortet meine Nachfrage mit den Worten: „Ja, es soll einen Freund gegeben haben, aber um ihn wurde ein großes Geheimnis gemacht.“ Zu meinen weiteren Nachfragen zuckt er die Axel. „Nein, ich weiß nichts“, er schüttelt den Kopf und wendet sich ab. Ob es eine verbotene Liebe war? frage ich mich. Eine Affäre mit einem verheirateten Chef oder aber gar eine Liebe zu einem Juden oder einem Kriegsgefangenen oder eine andere verbotene Beziehung?

      Von meinem Cousin Jürgen, dem Sohn von Lucie, erfahre ich, dass ihm von seiner Mutter, eine von der meinigen Version abweichende Auskunft überliefert wurde. Sie erzählte ihm, dass sich Friedchen mit ihrem Chef angelegt habe, bei verschiedenen Gelegenheiten, Widerspruchsgeist, der sie war, und der soll sie ans Messer geliefert haben, durch Denunziation. Wer war dieser Chef? Wo war sie tätig? Wofür konnte er sie ans Messer liefern? Ich wende mich an die Bundesanstalt für Angestellte und an die Landesversicherungsanstalt, als Rechtsnachfolger der Reichsversicherungsanstalt, und ich erhoffe mir, in ihren Hinterlassenschaften Aufschlüsse über die Arbeitsverhältnisse meiner Tante. Aber vergeblich, in den Unterlagen ist nichts aufbewahrt über sie und ihre Dienstverhältnisse. Durch Kriegseinwirkungen sei vieles zerstört, höre ich. Allerdings kann ich mich des Verdachts nicht gänzlich erwehren, dass man vielleicht nicht ernsthaft recherchiert hat, sondern solche lästigen Frager wie mich einfach abwehrt. Wer weiß es? Offensichtlich ist das, was man heute noch in Erfahrung bringen kann, zu wenig, um die konkreten Vorgänge ihres Verschwindens aufklären zu können. Für vieles ist es einfach zu spät.

      Mit Erstaunen registriere ich die offensichtliche Tatsache, dass in dem langen Zeitraum seit dem Krieg unter den lebenden Familienangehörigen über das Ende der jüngsten Schwester nicht geredet worden sein kann. Denn sonst hätte man sich gewiss in Hinblick auf den Haftgrund über eine gemeinsame, familienverbindliche Version verständigt. Nach der amtlichen Bestätigung ihres Todes durch das Standesamt in Ravensbrück, kurz nach dem Ende des Krieges, scheint man das Schicksal der jüngsten Schwester als beschlossene Sache abgebucht zu haben.

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