Verblassende Spuren. Ursula Reinhold

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Verblassende Spuren - Ursula Reinhold

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aus Westberlin auf den Weg nach Ravensbrück gemacht hat und dort auch Fragen nach dem Schicksal ihrer Schwester zu stellen versuchte. Eine Spur fand sie dabei aber nicht. Das war in den 60er Jahren, nach dem Mauerbau, und sie erzählte bei den seltenen Familientreffen darüber, die auf Grund der Passierscheinabkommen zustande kamen. Der Vater fand, es sei gut, dass Lucie durch die Verbindung zu den Westberliner Antifaschisten wenigstens manchmal noch aus dem eingemauerten Westberlin herauskäme. Für ihre Spurensuche nach der jüngsten Schwester zeigte er aber kein nachdrückliches Interesse. Jedenfalls ist mir nichts darüber bekannt, und so bleiben mir nur Bruchstücke von widersprüchlichen Vermutungen über Motive und Gründe ihres Verhaltens und ihres Verschwindens.

      Langsam begreife ich, dass es endgültig ist, ihre Lebenstatsachen sind mit ihr untergegangen. Es gibt niemanden mehr, der Auskunft geben könnte, und auch die Akten geben nichts mehr her, im sonst für seine bürokratische Umsicht so verschrienen Deutschland.

      Mit dem beginnenden und eskalierenden Krieg wurde die Zwangsdienstverpflichtung für unverheiratete Frauen immer strikter. Und wahrscheinlich verpflichtete man in diesem Zusammenhang auch Friedchen zur Arbeit in der Rüstungsindustrie, einem Zwang, dem sie sich nur widerwillig beugte oder ganz entzog. Sie sei Putzmacherin und wolle es bleiben, wolle ihren Beruf ausüben. Man fackelte nicht lange, brachte sie ins Lager

      Nachdem ich schon monatelang in den Hinterlassenschaften gesucht habe, die im Berliner Landesarchiv aufbewahrt sind, erfahre ich, dass es ein Jahr, bevor man sie ins Lager schaffte, ein Verfahren gegen sie gegeben hat. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon nicht mehr darauf gehofft, Spuren ihrer Existenz zu finden. In der Familienüberlieferung war von einem solchen prozessualen Verfahren nie die Rede gewesen. Mein Vater hat darüber offenbar nichts gewusst, sonst hätte er sich dazu irgendwann einmal geäußert. Anders kann ich mir das einfach nicht vorstellen, es würde nicht zu ihm passen, dass er über so etwas wortlos hinwegging. Möglicherweise hat er davon nichts erfahren, weil die Eltern die Sache vor den übrigen Familienmitgliedern verborgen gehalten haben. Die Mutter wird das Gefühl gehabt haben, sich den älteren Kindern gegenüber rechtfertigen zu müssen, weil die ihr immer zum Vorwurf machten, dass sie die Jüngste, den Nachkömmling, so verwöhnte. Vielleicht war der Kontakt zu diesem Zeitpunkt auch so sporadisch, dass dem älteren Bruder nichts gesagt wurde oder es wurde ihm gesagt und er hat es später ganz und gar vergessen.

      Unter den Archivalien existiert eine Karteikarte aus dem Frauenhaus Moabit, auf der festgehalten ist, dass Frieda Rangeus, aus dem Polizeipräsidium am Alexanderplatz kommend, am 23. April 1941 um 14 Uhr ins Frauenhaus des Untersuchungsgefängnisses in Moabit eingeliefert worden ist. Der Tatvorwurf gegen sie ist auf der kleinen Karte etwas kryptisch mit „Arbeitsuntr.“ angegeben, was ich als Arbeitsuntreue deute, eine sicherlich zulässige Vermutung, denn das war ein in Gesetzen und Erlassen formulierter Straftatbestand. In der Haftanstalt musste sie einen Monat lang bleiben, so ist es dem Eintrag auf der Karteikarte zu entnehmen. Am 26. Mai 1941 hat man sie wieder in die Wohnung der Eltern in Neukölln in der Altenbraker Straße 24 entlassen. Ob es sich bei dieser Inhaftierung um eine regelrechte Untersuchungshaft handelte oder um eine Maßnahme im Zusammenhang mit der bereits am 14. Dezember 1937 in einem Erlass verfügten „Polizeilichen Vorbeugehaft“, die im Rahmen sogenannter „Vorbeugender Verbrechensbekämpfung“ von der Abteilung V. des Reichssicherheitshauptamtes verfügt werden konnte, bleibt in der Schwebe. Zwar ist auf der Moabiter Karteikarte von U-Haft die Rede, dennoch ist wohl davon auszugehen, dass es sich um eine Polizeiliche Vorbeugehaft handelte, die in dem erwähnten Erlass auf vier Wochen festgesetzt war. Denn solange musste sie in Moabit bleiben.

      Offensichtlich rechnete man sie unter die sechs, äußerst willkürlich festgelegten Personengruppen, für die der Erlass eine Polizeiliche Vorbeugehaft vorsah. Menschen, die diesen Personengruppen zugerechnet wurden, konnten jederzeit festgesetzt werden. Solche Verfügungen wurden im Rahmen der Bemühungen um die Erarbeitung eines Gesetzes zur Behandlung „Gemeinschaftsfremder“ erlassen, auf dessen Grundlage eine formaljuristische Begründung zur vollkommenen Verfügungsgewalt über soziale Randgruppen und unangepasste Lebensformen geschaffen wurde. Die sechs bezeichneten Personengruppen waren: I. „Planmäßig Überwachte“, II. „Berufsverbrecher“, III. „Gewohnheitsverbrecher“, IV. „Gemeinschaftsgefährliche“, V. „Asoziale“ und VI. „Vermutliche Rechtsbrecher“. Den Anlass für Friedchens Inhaftierung vermute ich in den Begründungen, die unter Punkt V. für Personen mit asozialem Verhalten in dem Erlass angeführt sind. Meine Tante wurde wahrscheinlich der zweiten, hier angeführten Personengruppe zugerechnet: Menschen, die sich der Pflicht zur Arbeit entzogen haben und als Arbeitsscheue, Arbeitsverweigerer, Arbeitsunlustige stigmatisiert wurden. Bei der ersten Gruppe geht es um „Personen, die durch geringfügige, aber sich immer wiederholende Gesetzesübertretungen sich der in einem nationalsozialistischen Staat selbstverständlichen Ordnung nicht einfügen“. Hierunter summierte der Erlass Bettler, Landstreicher, Dirnen, Trunksüchtige, Menschen mit ansteckenden Geschlechtskrankheiten, die sich den Maßnahmen der Gesundheitsbehörden entziehen. Zu dieser Personengruppe werden sie meine Tante nicht gezählt haben können, weil es in ihrem Lebenswandel dafür keine Anhaltspunkte gab, aber auszuschließen ist auch das nicht, denn das hervorstechende Merkmal aller dieser Unterteilungen und Zuordnungen war die völlige Willkür. Alle Festlegungen dienten dem Zweck, den unbedingten Zugriff des Staates auf Menschen zu begründen und mit einer scheinbaren Legitimation zu versehen.

      Bereits 1938 hatte es auf der Grundlage eines Erlasses vom Dezember 1937 die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ gegeben, in deren Folge viele unangepasste Menschen aus fürsorgerischer Obhut in polizeilichen Gewahrsam und von dort in geschlossene „Besserungsanstalten“ oder in Arbeitslager kamen. Solche Maßnahmen wurden mit jedem Kriegsjahr forcierter, weil es der nationalsozialistischen Staatsführung darum ging, für die Erfordernisse des eskalierenden Krieges die Verfügungsgewalt über das Arbeitskräftepotential zu erweitern. Menschen, die als Arbeitsscheue, Arbeitsbummelanten, Arbeitssaboteure stigmatisiert wurden, galten seit 1939, seit dem Beginn des Krieges, in der Öffentlichkeit als stille Agenten der Feindmächte. Mangelnde Arbeitsleistung wurde zum hochverräterischen Akt stilisiert und zur zivilen Desertion an der Heimatfront erklärt.

      Eben zu dieser Zeit gab es auch die Bemühungen zur Fassung eines Gesetzes gegen sogenannte Gemeinschaftsfremde, durch das jede Form sozialer Unangepasstheit kriminalisiert werden sollte. Die Arbeit an diesem Vorhaben kam allerdings im Kompetenzgerangel zwischen Justizministerium, Kriminalpolizei und den Gestapo-Abteilungen des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) nicht zum Abschluss, vor allem aber war sie durch die bereits herrschende Praxis überholt und gegenstandslos geworden. Denn zwischen 1941/42 hatte die Gestapo immer mehr derartige Vorgänge an sich gezogen, die zunächst die Justizbehörden als ihr Feld betrachteten. Auf solchen Kompetenzentzug reagierten diese, indem sie dazu übergingen, mit Einweisungen in Arbeitslager der Gestapo zuvorzukommen, um die eigene Existenzberechtigung unter Beweis zu stellen. In der Zeit, als meine Tante in polizeilicher Vorbeugehaft saß, spielten sich solche Vorgänge hinter den Kulissen ab.

      Aber davon hat meine Tante mit Sicherheit nichts geahnt. Sie wird erleichtert gewesen sein, als sie am 26. Mai, einem möglicherweise milden Frühlingstag, von Alt-Moabit kommend, wieder die Altenbraker Straße entlanglaufen konnte, auf die Wohnung der Eltern zu, die sich im Seitenflügel der Hauses Nummer 24 befand. Ob die auf ihr Kommen vorbereitet waren? Hatten sie von der Inhaftierung der Tochter Kenntnis? Wahrscheinlich wird sie nur die Mutter angetroffen haben, als sie am Vormittag ankam, denn üblicherweise erfolgen Entlassungen aus Krankenhäusern und Haftanstalten vormittags. Und zu dieser Tageszeit war der Vater auf seiner Arbeitsstelle in der Gasanstalt, aber die Mutter wird ihren Liebling freudig erregt in die Arme geschlossen haben, glücklich, dass die widerborstige Tochter wieder zu Hause war. Die junge Frau und auch die Mutter werden kaum geahnt haben, vor welchen Hintergründen Festnahme und Freilassung passiert waren, sie wird einfach erleichtert gewesen sein, wieder zu Hause zu sein. Das Amtsgerichtsverfahren wegen des Tatvorwurfs der Arbeitsverweigerung hat ihr sicherlich den Schreck in die Glieder fahren lassen.

      Das entscheidende Verfahren lief unter dem Aktenzeichen 604 Ds 1065/41 vor dem Amtsgericht Berlin. Dieser Vermerk ist der Moabiter Karteikarte zu entnehmen,

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