Verblassende Spuren. Ursula Reinhold

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Verblassende Spuren - Ursula Reinhold

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dieses Aktenzeichen, und es ist nicht mehr auszumachen, ob dieses Verfahren während der Vorbeugehaft oder erst später stattgefunden hat. Unbekannt bleibt auch, wie es ausging, welche Strafe sie bekam, welche Auflagen das Verfahren festlegte. Es kann durchaus sein, dass sie sich in den nächsten Tagen melden musste und in ein Arbeitslager gekommen ist. Das alles bleibt im Ungewissen. Dementsprechend ist auch schwer vorstellbar, wie sie sich der Mutter gegenüber geäußert hat, wie ihre Empfindungen und Gefühle waren, mit denen sie nach Hause zurückkehrte. Hat das gerichtliche Verfahren sie eingeschüchtert, nahm sie sich vor, zukünftig ihrer Arbeitspflicht gewissenhafter nachzukommen oder hat es ihren Trotz gestärkt, fasste sie den bewussten Entschluss, sich der Mobilmachung für den Krieg zu entziehen oder war sie einfach nur leichtsinnig, ahnungslos, von fahrlässiger Sorglosigkeit und Naivität gegenüber der weitreichenden Verfügungsmacht des Staates? Wahrscheinlich war es ein Gemisch aus alledem. Sicherlich blieb sie trotzig und widerständig in Bezug auf ihre eigenen Interessen, und wahrscheinlich hat sie die Gefahr, in der sie sich befand, unterschätzt, weil sie das Funktionieren der faschistischen Staatsmaschinerie nicht überblickte.

      Innerhalb dieser auf den totalen Krieg ausgerichteten Maschinerie war auch das Moabiter Kriminalgericht um ein effektives Funktionieren seines Apparates bemüht. Darauf deutet ein Presseartikel vom 10. April 1942, der in fast allen Berliner Zeitungen publiziert wurde. Unter der Überschrift „Moabit vor und hinter den Schranken“ wird über die effiziente Umsetzung der Kriegsgesetzgebung berichtet. Man lobt die Arbeit des Gerichts, hebt hervor, dass trotz kriegsbedingter Einsparungen und der Tatsache, dass wegen Fronteinsatz mit nur der Hälfte der Richter gearbeitet werden muss, die schnelle Aburteilung von Straftätern erfolge. Es wird über beschleunigte, ohne Schöffen durchgeführte Verfahren berichtet, über den Machtzuwachs willfähriger Staatsanwälte, die ihre Tätigkeit nicht mehr auf der Grundlage zivilrechtlicher Festlegungen ausübten, sondern mit entschiedener NS-Ausrichtung dazu beitrugen, sogenannte Volksschädlinge unschädlich zu machen. Ihnen sei es zu danken, dass die Kriminalitätsrate niedriger als je zuvor sei.

      Einen Einblick in die Arbeit des Moabiter Amtsgerichts, in dem sich die Sache abspielte, erlaubt eine amtliche Drucksache aus jenen Jahren, die in der Deutschen Staatsbibliothek aufbewahrt wird. Dem „Geschäftsplan des Amtsgerichts Berlin“ ist eine Übersicht über die Verwaltungsgliederung der Behörde zu entnehmen. Im Geschäftsbericht 1941, dem letzten übrigens, der veröffentlicht wurde, sind im Teil VIII „Strafsachen gegen Volljährige“, Unterabschnitt I beschleunigte Strafverfahren zu Verbrechens- und Vergehenssachen aufgeführt, die von der Abteilung 604 bearbeitet und verhandelt wurden. Die Abteilung 604 war eigens eingerichtet worden, um sich mit „Arbeitsverweigerungssachen“ und mit „Verbrechen und Vergehen gegen das Luftschutzgesetz“ zu befassen. Das Aktenzeichen 604 im Amtsgerichtsverfahren gegen Frieda Rangeus bestätigt die Familienüberlieferung, auf deren Grundlage ich mir die Vorstellung gebildet habe, dass die Gründe des Verfahrens gegen sie in Arbeitsverweigerung zu suchen sind. Die Vermutung kann ich jetzt als Tatsache nehmen. Verfahren gegen Personen, die wegen Arbeitsuntreue bzw. Arbeitsverweigerung vor Gericht standen, wurden in der zuständigen Abteilung 604 von den Amtsgerichtsräten Otto von Sack und Walter Neuhaus bearbeitet. Die beiden sind im Geschäftsbericht der Behörde mit Wohnungsanschrift und Telefonnummer angegeben, und man erfährt, dass die Verhandlungen jeweils am Montag, Mittwoch, Donnerstag und Sonntag stattfanden, und zwar im Sitzungsaal I. 278 in Alt-Moabit. Wer von den beiden die Verhandlung geführt hat, lässt sich nicht mehr feststellen, wohl derjenige, der am Tag der Verhandlung für die Beschuldigten mit dem Anfangsbuchstaben R zuständig war. Um danach zu forschen, wird es zu spät sein. Nur einen Moment lang erwäge ich einen solchen Gedanken, als ich mir ihre Namen notiere.

      Als sicher kann ich nun aber davon ausgehen, dass meine Tante es mit der Justiz zu tun hatte. Aber wie ist ihr Fall zur Gestapo gekommen? Denn die Gestapo fungiert ein Jahr später als die Behörde, die sie zur sogenannten Schutzhaft ins Frauenkonzentrationslager einwies. Von den Justizbehörden wurden Menschen aus ganz unterschiedlichen, aber ähnlichen Gründen wie meine Tante als Vorbeugehäftlinge in Gewahrsam genommen, während die Einweisungen durch die Gestapo stets als Schutzhaft galten und Betroffene als Schutzhäftlinge. Man muss es wohl hinnehmen, dass über die Vorgänge, die ihrer Einlieferung ins Konzentrationslager Ravensbrück vorausgingen, keine genaueren Aufschlüsse mehr zu erlangen sein werden. Immerhin war sie zumindest noch kurze Zeit in Freiheit, nachdem jenes Verfahren abgeschlossen war. Wie lange, das entzieht sich meiner bisherigen Einsicht, und wie sie diese Zeit verbracht hat, auch. Ist sie der abgeforderten Arbeitspflicht nun nachgekommen? Oder hatte sie dazu gar keine Gelegenheit mehr, weil man sie in ein Arbeitslager gesteckt hat. Im Havelländischen Rhinow gab es bereits seit Herbst 1941 ein solches „Arbeitserziehungslager“ für Frauen, es war der Vorgänger des AEL Fehrbellin, das im Frühjahr 1942 eingerichtet wurde und bis zum Kriegende bestand. Dort waren neben Frauen aus Polen und der Ukraine auch Deutsche inhaftiert. Es ist nicht auszuschließen, dass man sie in ein solches Lager verbracht hat. Hier musste Strafarbeit unter schlechtesten Bedingungen geleistet werden. Allerdings war der Zwangsaufenthalt dort auf maximal 56 Tage festgelegt, und wer als gebessert galt, kehrte in die Fabrik zurück, die die Strafmaßnahme veranlasst hatte. Wer allerdings als nicht gebessert galt, hatte die Einlieferung ins Konzentrationslager zu gewärtigen.

      Oder gab es andere Ereignisse im Leben meiner Tante, die den letzten Anstoß dafür bildeten, dass die Gestapo sie nach Ravensbrück ins Lager verbrachte? Vielleicht ist sie im Zuge eines allgemeinen Verwaltungsaktes ins Räderwerk geraten, und der Vorgang, der sie betraf, wurde einfach von den Justizbehörden an die Gestapo weitergereicht? Denn in der Zeit zwischen Juni und Dezember 1942 galt den als asozial und arbeitsscheu stigmatisierten Personengruppen die verstärkte Aufmerksamkeit der Behörden. Es setzte eine Radikalisierung der sogenannten Kriminalprävention ein, in deren Verlauf die Justiz ihre Verfügungsgewalt immer mehr an die politische Sicherheitspolizei abgab. Auch aus den Haftanstalten wurden zunehmend verurteilte Menschen zu Arbeitszwecken in Konzentrationslager und Arbeitslager überführt. Diese Maßnahmen waren Teil der verstärkten Mobilmachung aller Kräfte und Ressourcen für den entfesselten Krieg.

      Die Häftlingskarte, die im Archiv des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück aufbewahrt wird, verzeichnet den 20. Juni 1942 als den Tag der Einlieferung ins Lager. Als Einlieferungsstelle ist die Gestapo angeführt, die meine Tante, als eine Reichsdeutsche, in sogenannte Schutzhaft genommen hatte. In dem einzig erhaltenen Brief, den sie im Juni 1944 aus dem Frauenkonzentrationslager an die Eltern geschrieben hat, spricht sie davon, dass es bereits zweieinhalb Jahre sind, seit sie fort von zu Hause, getrennt von den Angehörigen ist. Aus dieser ihrer Angabe wird deutlich, dass es eine Zeitlücke von einem halben Jahr gibt. Denn seit ihrer Einlieferung ins Frauenkonzentrationslager waren im Juni 44 zwei Jahre vergangen, und es ist möglich, dass sie zuvor ein halbes Jahr lang schon in einem anderen Lager festgehalten worden ist. Es kann aber auch sein, dass ihr unter den Bedingungen des Lagerlebens das Maß für die Zeit abhanden gekommen war. Auf jeden Fall gibt es in ihrem kurzen Erwachsenenleben eine Lücke von einem Jahr, für die es mir bisher nicht gelungen ist, Belege bürokratischer Vorgänge zu finden, die in ihrer Verkettung schließlich ihr Schicksal ausmachen und ihr junges Leben auslöschen sollten.

      Offensichtlich war es so, dass ihr Vorgang von der Justiz inzwischen an die Gestapo übergegangen war, mit welchen Zwischenstufen auch immer. Und tatsächlich entspricht diese Vorgehensweise den in dieser Zeit üblichen Gepflogenheiten. Wurden bis dahin in der Wortwahl der Polizei- und Justizbehörden Berufsverbrecher, Antisoziale, Asoziale und Politische akribisch getrennt, so begann der Wortgebrauch ab 1942 immer mehr zu verschmelzen. Außerdem ging es den Behörden des faschistischen Staates darum, die Verfügungsgewalt über die Masse der fremdländischen Arbeiter und Arbeiterinnen zu perfektionieren, die man aus den westlichen und östlichen Kriegsgebieten zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt hatte. Darum ging es vor allem auch im Himmler-Erlass vom 28. Mai 1941, der die Handhabung der Einweisung in Arbeitserziehungslager vereinheitlichen wollte, indem er die Gestapo zur einweisungsberechtigten Instanz machte. In dem Erlass heißt es, dass, „wer die Arbeit verweigert oder auf sonstige Weise die Arbeitsmoral gefährdet, in Arbeitserziehungslagern zur Arbeit angehalten werden“ müsse. Nach mehrwöchentlicher Haft im Arbeitslager sollte eine Rückführung an den alten Arbeitsplatz erfolgen,

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