Verblassende Spuren. Ursula Reinhold
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In dem bereits erwähnten Himmler-Erlass wird festgelegt, dass die Gestapo ihre Informationen über Arbeitsbummelanten durch Meldungen zu bekommen hatte, die ihr von Arbeitgebern, Arbeitsämtern und Reichstreuhändern der Arbeit zuzugehen hatten. Wahrscheinlich trifft die von Lucie überlieferte Version für einen frühen Zeitpunkt ihrer Geschichte zu, die davon gesprochen hat, dass Friedchen sich mit ihrem Chef angelegt habe. Eine Recherche in dieser Richtung könnte zusätzliche Informationen erbringen. Wenn es mir gelänge, Aufschlüsse über den Betrieb zu gewinnen, in den man sie verpflichtet hatte, käme ich einem weiteren Element des funktionierenden Gesamtsystems auf die Spur. Denn die Überwachungs- und Verwaltungsstellen des Staates brauchten, um zu funktionieren, Zuträger. Ohne Menschen, die bereit waren, andere bei entsprechenden Stellen zu melden, hätte der Apparat nicht funktionieren können. So bekommen die mir von meinem Cousin überlieferten Worte seiner Mutter noch eine zusätzliche Dimension, die weitergehende Fragen provozieren.
In welchem Betrieb musste sie arbeiten? Wer war wohl dieser Chef, und zu welcher Kategorie von Zeitgenossen hat er gehört? Und ich denke mir, er muss nicht unbedingt ein überzeugter Nazi gewesen sein, der eine junge Frau, die es mit der Arbeitsdisziplin nicht so recht ernst nahm, als Arbeitsbummelantin seinem Vorgesetzten meldete. Denn er musste sich gegenüber der Betriebsführung für die Erfüllung des 2. Vierjahresplanes, der die Kriegswirtschaft auf Hochtouren zu bringen hatte, verantworten, und da galt jeder Verstoß gegen Arbeitsdisziplin als Sabotage. Möglicherweise war er ein ordentlicher Arbeiter, dem strikte Pflichterfüllung ein unumstößliches Gebot war und der sich ärgerte über den Schlendrian, den Leichtsinn der jungen Frau, die ihm vielleicht noch patzige Artworten gab, wenn er sie zur Rede stellte. Wenn er mit den Folgen seiner Meldung je konfrontiert worden wäre, wäre er vielleicht sehr erschrocken. Das hatte er nicht gewollt, nur eine Lehre wollte er ihr erteilen in ihrem Hochmut. Oder aber es war ein Mann, der ihr möglicherweise nachgestiegen ist, ihr den Hof gemacht hat. Sie hatte ihm vielleicht sogar, etwas kokett, wie sie sicherlich gewesen ist, wie alle eitlen Mädchen, Hoffnungen gemacht und er sah sich dann, als er sich ihr nähern wollte, brüsk abgewiesen, so dass er sich tief gekränkt fühlte in seiner Mannesehre und nicht mehr gewillt war, zu übersehen, dass sie öfter zu spät die Arbeit begann oder vielleicht auch, unentschuldigt gar, nicht erschienen war. Nein, jetzt würde er Meldung machen, er hatte genug, und er war durchaus nicht unzufrieden, dass der Anlass seiner Kränkung ihm nicht mehr vor die Augen trat. Sie war fort und Schwamm drüber, und er vergaß sie schnell. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, zu fragen, wo sie den abgeblieben war. Es beschäftigten sich nun andere mit ihrem Fall, glücklicherweise, die war er los. Hätte man ihn irgendwann mit ihrem Schicksal konfrontiert, hätte er wahrscheinlich sich nur dunkel erinnern können, an eine Frau solchen Namens, wenn er nicht überhaupt bestritten hätte, sie jemals gekannt zu haben.
Der 20. Juni 1942, an dem sie nach Ravensbrück kam, war ein Sonnabend. Das habe ich mir nach den Regeln des ewigen Kalenders errechnet und finde es beim Lesen der Zeitungen aus jenen Tagen bestätigt. Die Berliner Presseerzeugnisse finde ich im Getreidespeicher des Westhafens, in dem die Deutsche Staatsbibliothek seit einiger Zeit ihren Zeitungsbestand untergebracht hat. Mit dem „Völkischen Beobachter“ anfangend, nehme ich die „Berliner Morgenpost“, die „Berliner Allgemeine Zeitung“, die „Berliner Illustrierte Nachtausgabe“, den „Lokalanzeiger“, das „Berliner Tageblatt“, die „BZ am Mittag“ und noch einige andere Blätter zur Hand und begreife, was gleichgeschaltete Presse bedeutet. Auf jeweils 6 Seiten findet man übereinstimmende Front- bzw. Siegesnachrichten, nur die Lokalnachrichten variieren geringfügig. Meine Hoffnung, irgendeinen Hinweis auf solche Transporte zu finden, erweist sich als abwegig. Vielleicht, dass als Abschreckungsmaßnahme über sie berichtet wurde, hatte ich mir gedacht. Aber nichts, nicht der kleinste Hinweis findet sich auf den Tatbestand, den ich suche, obwohl es Nachrichten über Prozesse, über Todesurteile und ihre Vollstreckung gibt. Drastische Strafen für geringfügige Vergehen, man erfährt, wie die Justiz ihren Beitrag zur totalen Mobilmachung leistet. Ein 33jähriger Postbeamter wird zum Tode verurteilt und auch gleich hingerichtet, weil er Zigaretten aus Feldpostpäckchen gestohlen hat. Auf den ersten Zeitungsseiten wird in diesen Tagen vom Sieg Rommels über die Engländer an der Afrika–Front berichtet. Triumphierend wird die Einnahme der in Libyen gelegenen Festung Tobruk verkündet, die als uneinnehmbar galt. Nach eineinhalb Tagen Belagerung war sie von den englischen Truppen nach großen Verlusten an Menschen und Material geräumt worden. Vom Südabschnitt der Ostfront in der Nähe von Sewastopol wird gemeldet, dass die sowjetische Armee große Verluste erlitten habe. Die Zeitungen feierten in diesen Tagen die Versenkung von vier britischen Kreuzern, zwei Bewacher- und Handelsschiffe mit insgesamt 5600 Bruttoregistertonnen waren es. Außerdem wird die Nachricht verbreitet, dass die Attentäter Heydrichs gefasst worden seien, man habe sie beim Angriff auf eine Kirche, in der sie sich verschanzt hatten, erschossen. Man schwelgt in Siegeszuversicht, die Zeitungsschreiber verkünden, dass mit dem Ende des Jahres 1942 auch der endgültige deutsche Sieg kommen werde.
Gegenüber diesen siegessicheren öffentlichen Bekundungen dokumentieren die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes an die SS für die Zeit vom 30. März 1942 bis zum 20. Juli 1942, die von Heinz Boberach im Band 10 der Reihe „Meldungen aus dem Reich“ herausgegeben worden sind (1984), eine verbreitete Unzufriedenheit unter der Bevölkerung auf Grund von Versorgungsengpässen, die seit einiger Zeit zugenommen hatten. Es ist offensichtlich, dass die Bevölkerung unter den Einschränkungen der Kriegswirtschaft zunehmend litt. In den Zeitungen spiegelt sich die schwierige Lage für die Bevölkerung allenfalls im Kleingedruckten. Man liest, dass nunmehr die Lebensmittelkarten für die 37. Zuteilungsperiode verteilt werden und dass 20 Kleiderpunkte am 1. November fällig werden, die dann bis zum August 1943 gelten mussten. Bei der Lebensmittelzuteilung wurden anstelle von Butterschmalz 125 g Margarine an den Normalverbraucher und 200 g an Jugendliche abgegeben. Auch Obstsirup gab es nicht mehr ohne weiteres, auch er unterlag nunmehr der Markenpflicht. Er wurde auf Reichszuckerkarte anstelle von Zucker ausgegeben. Außerdem lese ich, dass es nunmehr eine für das gesamte Putzmacherhandwerk verbindliche Preisbindung bei Damenhüten gibt. Das war sicherlich eine Nachricht, die für meine Tante, die Putzmacherin, wenn sie noch in ihrem Beruf hätte tätig sein können, eine Bedeutung gehabt hätte. Welche freilich, weiß ich mir nicht vorzustellen. Die erste drastische Kürzung der Lebensmittelrationen hatte es bereits im April 1942 gegeben. Damals war die Brotration für Normalverbraucher von 9600 auf 6400 g und die Fleischzuteilung von 1600 auf 1200 g pro Monat gekürzt worden. Demnach bedeuteten die aktuellen Meldungen dieser Tage weitergehende Einschränkungen in der Versorgung.
Auch erfahre ich durch die Zeitungslektüre, dass meine Großeltern die Lebensmittelkarte ihrer verschwundenen Tochter umgehend zurückzugeben hatten. Sie galt nun als nicht mehr bezugsscheinberechtigt, weil sie sich seit ihrer Deportation in Gemeinschaftsverpflegung befand. Sicherlich sind ihnen solche Verfügungen geläufig gewesen, schließlich war mein Großvater ein regelmäßiger Zeitungsleser, und wahrscheinlich haben sie diese Aufforderung auch umgehend befolgt. Denn der Großvater war ängstlich