Eine ungeheure Wut. Elena Landauer

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Eine ungeheure Wut - Elena Landauer

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geschlafen und bin Ihnen hinten drauf gefahren.“

      „Ich hätte vielleicht nicht so hastig bremsen sollen“, sagte er. „Ich war nur erschreckt. Es hätte wohl auch genügt, wenn ich keine Vollbremsung gemacht hätte.“

      „Sie reden sich ja um Kopf und Kragen“, sagte ich. „Wollen Sie den Schaden denn unbedingt selbst tragen?“

      Ich fuhr hinter ihm her nach Hause. Wir wohnten in derselben Straße. Er bog ab in die Garage eines Hauses, das im Dorf etwas spöttisch Fort Knox genannt wurde. Im recht ländlichen S. lebte man noch relativ ungeschützt. Neben den Bauernhöfen, die meist als Reitställe genutzt wurden und große offene Einfahrten hatten, gab es die einfachen Landhäuser mit einem kleinen Vorgarten, ein paar Mietshäuser und einige Villen, die sich hinter Hecken versteckten; aber kein Haus war wie das meines Unfallgegners von einem hohen, stabilen Zaun umgeben.

      Zwei Wochen später rief mich Julian an und bedankte sich für die Regelung der Angelegenheit, die übrigens 3.700 Euro gekostet hatte, und lud mich zum Essen ein. Ich war schon neugierig auf das Innere von Fort Knox, er nannte aber ein Gasthaus in der Nähe. „Das ist das Wenigste, was ich tun kann, nachdem Sie durch mich einen so großen finanziellen Schaden erlitten haben.“ Der Mann begann mich aus therapeutischer Sicht zu interessieren. Woher hatte er die auffällige Neigung zur Selbstbeschuldigung?

      Julian war zweiundvierzig, kam aus Süddeutschland und arbeitete bei Blohm & Voss. Viel mehr erfuhr ich zunächst nicht von ihm, weil er mich mit größtem Interesse nach meiner Tätigkeit ausfragte. Was ihn besonders interessierte, war der therapeutische Umgang mit Depressiven. Wie hoch war die Erfolgsquote bei einer Therapie? Warum wurden Menschen depressiv? Ich erzählte ihm von einigen Fällen aus meiner Praxis. Er fragte nach. Ich erzählte ihm von einem Mädchen, dem alles gleichgültig war, das sich für nichts begeistern konnte und das morgens nicht aus dem Bett wollte, weil es nicht wusste, wozu es aufstehen sollte. Er fragte nach dem Therapieerfolg. Letztlich sei ich gescheitert, musste ich eingestehen. Das Mädchen hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten und war verblutet. Er wollte eine Erklärung. Dass Leute mit einer tödlichen Krankheit wie Krebs im Endstadium Selbstmord begingen, könne er verstehen. Sogar Selbstmord aus Liebeskummer sei für ihn nachvollziehbar; aber warum sonst sollte sich ein junger Mensch, der sein ganzes Leben noch vor sich habe und eigentlich doch den Lebenswillen in sich spüren müsse, umbringen? Ich erzählte ihm von Verlusterlebnissen, die ein junger Mensch in seinem Leben gehabt haben konnte, ohne dass er wusste, dass er sie jemals hatte, und dass es manchmal gelang, diese Erlebnisse ins Bewusstsein zu heben und dass das manchmal zu einem Therapieerfolg führte, manchmal aber auch nicht, dass es oft nicht gelinge, hinter die Ursache zu kommen und dass viele Depressionen auch körperlich bedingt seien und medikamentös behandelt werden müssten.

      „Kann man Selbstmorde verhindern“, wollte er wissen. Ich nannte ihm Anzeichen, die auf eine Selbstmordabsicht hindeuteten, die aber auch manchmal fehlten und manchmal keine größere Bedeutung hätten. Die meisten Selbstmordversuche scheitern übrigens zum Glück, fügte ich hinzu, weil sie scheitern sollen. Sie seien Hilferufe und als Vorwurf für die Angehörigen gedacht. Sie würden oft so durchgeführt, dass sie entdeckt und letztlich verhindert werden könnten, und wenn die eingeplante Entdeckung dann überraschenderweise doch nicht stattfinde, weil der Lebenspartner beispielsweise zu spät nach Hause komme, riefen die Selbstmordkandidaten selbst den Notdienst an. Aber es gebe natürlich auch andere, die keine Signale, zumindest keine erkennbaren, sendeten und sicher stellten, dass der Selbstmord auch erfolgreich sei.

      Julian entschuldigte sich dafür, dass er mich mit seinen Nachfragen bedrängte. Ich fragte ihn, warum ihn das Thema denn so stark interessiere. Er sprach von einem Kollegen, dessen Tochter Selbstmord begangen habe. Dann fügte er hinzu, dass er zwar Ingenieur sei, aber viel lese. Und da gehe es ihm doch oft zu Herzen, warum so viele junge Menschen ihr Leben wegwürfen oder es durch Drogenkonsum ruinierten. Schuldgefühle, sagte ich, spielten oft eine Rolle. Er habe gerade mal wieder den „Faust“ gelesen, erklärte Julian. Gretchen sei ja ein Beispiel für Selbstbestrafung aus Schuldgefühl, obwohl sie doch eigentlich gar keine Schuld habe. Aber sie rechne es sich als Schuld an, dass sie ihre Mutter unwillentlich mit dem Schlafmittel, das ihr Faust gegeben hatte, getötet und ein uneheliches Kind bekommen habe und dass ihr Bruder von Faust getötet worden sei. Aber das sei doch lange her und spiele in einer Zeit mit strikten moralischen Normen und empfindsamen Seelen, meinte er, heutzutage sei das doch anders. Empfindsame Seelen gebe es immer noch, sagte ich, auch wenn es Gott sei Dank aus der Mode gekommen sei, bei jedem größeren Schreck und jeder größeren Freude in Ohnmacht zu fallen und auf das Riechfläschchen zu warten. Und selbst wenn die Moral heutzutage eine geringere Rolle spiele, Ehrverlust und Schuldgefühle seien für viele Menschen doch noch ein Problem.

      Mir war natürlich klar, dass es weder Gretchen war noch die Tochter eines Kollegen, die Julians auffälliges Interesse an depressiven Mädchen erklärten. Ich wollte zwar unser gemeinsames Abendessen nicht zu einer therapeutischen Sitzung werden lassen, aber trotzdem rutschte mir die Frage heraus, ob er eine Tochter habe. Er zögerte einen Moment und sagte dann etwas zu heftig: Nein, nein, er habe keine Kinder, um dann noch heftiger hinzuzufügen, er habe auch keine Frau, er sei nämlich geschieden, und seine ehemalige Frau lebe jetzt wieder in Schwaben, wo sie früher gelebt hätten. Ich entschuldigte mich für meine indiskrete Frage, woraufhin Julian dann wieder versöhnlich meinte, die Sache wäre ausgeglichen, wenn ich auch etwas über meine persönlichen Verhältnisse verriete. Ich erzählte ihm also, dass ich verwitwet sei, weil mein Mann vor zwölf Jahren einen tödlichen Verkehrsunfall gehabt habe, und dass ich eine 17jährige Tochter hätte, die zur Zeit in Amerika ein Auslandsschuljahr mache. Nun war es an ihm, sich zu entschuldigen und mir sein Beileid wegen des Todes meines Mannes auszusprechen.

      „Dann haben wir also jetzt keine Geheimnisse mehr voreinander“, spöttelte ich, woraufhin wir uns zuprosteten.

      „Und wie geht es Ihrer Tochter in Amerika?“, wollte Julian dann wissen.

      „Soviel ich weiß, geht es ihr sehr gut da.“

      „Und wo ist sie da genau?“.

      „In Columbus, Ohio.“

      „Das ist ja eine sichere Gegend“.

      „Ich mache mir da auch keine Sorgen“, bestätigte ich ihn, „Columbus ist ja nicht New York.“

      Das nächste Mal traf ich Julian beim Joggen. Es war ein sonniger Sonntag im März. Meist schaffe ich es ja nicht, mich rechtzeitig zum Joggen aufzuraffen, und dann wird es elf oder zwölf, bis ich aus dem Haus komme, manchmal schaffe ich es aber auch erst am Nachmittag. Aber an diesem ersten Frühlingstag hatte ich eine Verabredung mit meiner Freundin Lea. Außerdem war zu erwarten, dass die Wege, auf denen ich lief, ab zehn oder elf voll waren mit Spaziergängern und Radfahrern, einschließlich der mitlaufenden Hunde, die es nicht unterlassen können, alle Jogger anzukläffen und aus dem Rhythmus zu bringen. Also zwang ich mich an diesem Tag, schon um neun Uhr loszulaufen. Ich war kaum zehn Minuten unterwegs, als mir Julian entgegenkam. Er war schon auf dem Rückweg und ordentlich verschwitzt. Wir blieben stehen und gaben uns die Hand.

      „Sie sind ja ein Frühaufsteher“, sagte ich. „Dabei war ich schon stolz, dass ich es heute geschafft habe, um neun auf den Beinen zu sein.“

      „Nachher wird es hier Gedränge geben“, meinte er.

      „Osterspaziergang“, sagte ich.

      „Ich höre schon des Volks Getümmel/ Hier ist des Volkes wahrer Himmel/ Zufrieden jauchzet groß und klein/ Hier bin ich Mensch, hier darf ich´s sein“, zitierte er.

      „Wenn Sie noch lange hier herumstehen, werden Sie aber bald nicht jauchzen, sondern schluchzen, weil Sie sich eine ordentliche Erkältung zugezogen haben, so verschwitzt wie Sie sind.“

      „Ich

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