Eine ungeheure Wut. Elena Landauer
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„Und die Schule ist nicht weit weg“, ergänzte ich.
Ich zoomte mich wieder von dem Haus weg und zeigte ihm die Schule, die zwei Blocks entfernt war. Julian schaute nur und sagte nichts. Ich schaltete auf Emails und zeigte ihm Fotos, die die Familie mir zugeschickt hatte. Das sind Ron und Barbara, und das sind ihre beiden Mädchen. Ron arbeitet in der Stadtverwaltung und Barbara ist Lehrerin an Judiths Schule.“
Julian sagte immer noch nichts.
„Und das ist Rex“, fügte ich noch hinzu und zeigte Julian das Foto eines deutschen Schäferhundes.
„Der beißt jeden Eindringling weg. Beruhigt?“
„Entschuldige“, sagte Julian schließlich, „ich bin vielleicht ein bisschen zu ängstlich.“
Mitte August kam Judith aus den USA zurück. Sie war noch einige Wochen über das Schuljahresende hinaus dort geblieben, um mit ihrer Gastfamilie eine Rundreise zur Westküste zu machen: Yellowstone Park, San Francisco, Los Angeles, Las Vegas, Grand Canyon und so weiter.
Ich fuhr zusammen mit Julian zum Flughafen, um sie dort abzuholen. Judith kam braun gebrannt und strahlend in die Empfangshalle, fiel mir um den Hals und begrüßte Julian mit der Nonchalance einer Weitgereisten. Sie plapperte ununterbrochen, als wir in Julians Auto nach Hause fuhren. Hinten im Auto sitzend erzählte sie halb Englisch halb Deutsch von Ihrer Familie, von Mom, Dad, Cindy und Meaghan, von ihrer Schule und von der Rundreise. Ich beobachtete Julian von der Seite. Er amüsierte sich köstlich, das Grinsen ging ihm nicht aus dem Gesicht. Er saß da wie ein stolzer Vater, der seine schöne Tochter auf dem Abiball tanzen sieht. Als Judith so ungefähr zum zehnten Mal von ihrer Mom gesprochen hatte, sagte ich: „Excuse me, young lady, I´m your mom.“ „Entschuldigung!“, widersprach Judith heftig, „Barbara ist meine Mom, du bist meine Mutter.“
Sie beugte sich vor und gab mir einen Kuss.
Zum Abendessen waren wir wieder mit Julian verabredet. Wir holten ihn in seiner Festung ab und fuhren in das Lokal, wo ich schon mit Julian die Erledigung der Unfallkosten gefeiert hatte. Judith konnte sich natürlich nicht verkneifen, Julian nach den Gründen für die Schutzmaßnahmen um sein Haus zu fragen. Ob er Goldschätze dort aufbewahre oder Leichen in seinem Keller verstecke? Julian wirkte aber nicht gekränkt, sondern verwies auf die Ängstlichkeit seiner früheren Frau. Beim Essen verlief die Unterhaltung ähnlich wie im Auto: Judith erzählte, inzwischen auch schon überwiegend auf Deutsch, was es alles an Absonderlichem in den USA gab. Immerhin hatten wir manchmal Gelegenheit eine Frage zu stellen, wenn sie gerade mal den Mund voll hatte. Als Erstes ging es um die Tischsitten. Sie sei versucht gewesen, erzählte Judith, als die Suppe serviert worden sei, die Hände unter dem Tisch zu falten und still zu beten. Das habe ihre Familie nämlich getan, wenn sie in ein Restaurant gegangen seien. Zu Hause sei aber immer laut gebetet worden, vor und nach dem Mittagessen, ebenso vor und nach dem Abendessen. Nur zum Frühstück sei nicht gebetet worden. Das habe man verzehren dürfen, ohne Gott um seinen Segen zu bitten oder ihm zu danken. Sie seien aber selten in ein Restaurant gegangen, weil ihre Mom und ihr Dad gerne gekocht hätten, und zwar gut und gesund. Es habe keineswegs jeden Tag Fast Food gegeben, wie wir vielleicht denken würden. Es gebe auch Amerikaner, die nicht nur von Hamburgern und Pommes und Cola lebten; aber natürlich seien die meisten Amerikaner übergewichtig, nicht aber ihre Familie. Dann ging es um die Schule, ihre Lehrer, ihre Freunde, dann wieder um die Rundreise. Julian stellte am Anfang einige Fragen, wurde dann aber immer stiller.
Schließlich meinte Judith: „Ich glaube, ich rede zu viel, Julian wird schon ganz schläfrig.“ Julian protestierte. Es sei ein Vergnügen, ihr zuzuhören; aber er sei wohl in der Tat ein wenig müde. Er entschuldigte sich und bat darum, es ihm nicht übel zu nehmen, wenn er vorzeitig nach Hause ginge. Er wirkte trotz der aufgesetzten Heiterkeit traurig und verließ das Lokal mit hängenden Schultern.
Judith war in den folgenden Tagen kaum noch zu sehen. Sie traf sich mit ihren Freundinnen und Freunden, und bald begann auch die Schule. Ich war schon froh, wenn sie wenigstens beim Abendessen und am Wochenende zu Hause war.
Was mich von Tag zu Tag mehr verwirrte war die Tatsache, dass Julian mich nie zu sich einlud. Wenn wir uns privat trafen, geschah das immer bei mir. Ich überlegte, ob ich ihn fragen sollte, ob er vielleicht, wie Judith gescherzt hatte, tatsächlich eine Leiche im Haus habe, unterließ es aber, um ihn nicht unter Druck zu setzen. Schließlich sagte er von sich aus, es sei doch komisch, dass ich noch nie in seinem Haus gewesen sei, und lud mich für den nächsten Tag ein. Begrüßt wurde ich zunächst vom wütenden Gebell seines Hundes, der sich am Zaun aufrichtete und mir sein Gebiss zeigte, und vom grellen Licht des Bewegungsmelders. Ich hatte schon Angst auf die Klingel zu drücken, weil ich befürchtete, dann ginge ein neues Donnerwetter los. Ich musste es aber erst gar nicht tun, weil Julian schon das Gartentor öffnete.
Die Wohnung war groß und hell, besonders das Wohnzimmer, das recht karg, aber geschmackvoll eingerichtet war: eine breite Glasfront zum Garten hin, vor der jetzt der Hund stand und durch Knurren auf sich aufmerksam machte, ein Esstisch mit vier Stühlen, ein Sofa mit Beistelltisch, ein Sideboard, ein paar Bilder und ein Bücherregal, das eine Wand verdeckte. Auffälligstes Mobiliar war ein Klavier rechts an der weißen Wand. „Du spielst Klavier?“, fragte ich ihn. „Hin und wieder“, sagte er. Ich bat ihn, mir etwas vorzuspielen. Er zierte sich nicht lange, sondern fragte mich, was es denn sein solle. Ich überließ ihm die Auswahl. Ich habe wenig Ahnung von Musik, lasse mich aber gerne von ihr einfangen. Julian spielte etwas Träumerisches, das mich über eine verschneite Landschaft fliegen ließ. Ich hatte aber auch Zeit, mich im Wohnzimmer umzusehen. Über dem Klavier waren zwei helle Stellen, an denen offenbar vor nicht allzu langer Zeit Bilder gehangen hatten. Die Nägel darüber waren noch nicht entfernt. Dann überließ ich mich wieder meinen Traumbildern. „Schläfst du?“, fragte Julian plötzlich. Ich hatte mit geschlossenen Augen auf dem Sofa gesessen, sodass ich gar nicht bemerkt hatte, dass er nicht mehr spielte. „Du hast mich zum Träumen gebracht“, sagte ich, „es war sehr schön.“
„Hast du etwas dagegen, wenn ich den Hund mal hereinhole, damit er mit dir Freundschaft schließt?“, fragte Julian. „Ich möchte nicht, dass er dich auch künftig ankläfft, wenn du mich besuchst.“
„Wenn es hilft und er mich nicht beißt.“
„Keine Sorge!“
Er ließ den Hund durch die Terrassentür herein und stellte mich als Freundin vor. Der Hund war nun ganz ruhig und kam zu mir, um sich ein wenig kraulen zu lassen. Ich mag eigentlich keine Hunde; ich liebe Katzen. Mit Hunden muss man sich dauernd beschäftigen, weil sie so auf ihren Herrn fixiert sind, ihn dauernd anstarren und auf seine Befehle warten. So ein Verhalten ist mir zu sklavisch. Katzen dagegen können sich gut alleine beschäftigen und auf Befehle reagieren sie allergisch. Wenn sie Lust haben, kommen sie und lassen sich streicheln; wenn sie keine haben, bleiben sie weg. Und wenn man eine Katzenklappe zum Garten hin hat, hat man mit ihnen keine Arbeit. Hunde sind dagegen nicht nur eine Belastung für ihre Besitzer, die sie alle paar Stunden Gassi führen müssen, sondern ein Alptraum für Jogger, weil diese Kläffer, besonders die kleinen, immer zeigen müssen, wie gefährlich sie sind. Dieser Hund hier benahm sich aber ordentlich.
„Wie heißt er denn?“, fragte ich.
„Theo.“
„Theo? Seltsamer Name für einen Hund.“
„Er hat gewisse Ähnlichkeit mit