DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL. Nancy Salchow

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DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL - Nancy Salchow

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Haus in den Händen hielt. Seine Nachbarin Frau Jäger hatte sich in der Zwischenzeit um seinen Garten gekümmert, zumindest um das, was davon übrig geblieben war. Auch die Fenster machten den Eindruck, erst vor kurzem geputzt worden zu sein. Er selbst jedoch hatte seit einem Jahr keinen Fuß mehr über die Türschwelle gesetzt.

      Auf der letzten Stufe zögerte er für einen Moment. Der Schlüsselanhänger, ein alberner Stoffbär mit Zylinder, hing seltsam vertraut zwischen seinen Fingern herab, als hätte er ihn nie zur Seite gelegt. Mit einem tiefen Atemzug steckte Simon schließlich den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.

      Er erinnerte sich daran, das Haus damals überstürzt und in unverändertem Zustand verlassen zu haben; trotzdem traf ihn der vertraute Anblick heftiger als erwartet. Emmas Pantoffeln neben der Küchentür. Ihre Wildlederstiefel vor der Heizung. Die dunkelblaue Strickjacke an der Garderobe. Ein leichter Windzug verstummte, als er die Tür hinter sich schloss. Mit vorsichtigen Schritten durchquerte er den Flur, bis er die Küche erreichte. Auf dem Tisch stand ein frischer Strauß Chrysanthemen. Frau Jäger. Sicher hatte sie die Blumen erst am Morgen in die Vase gestellt.

      Doch der Gedanke an die Fürsorglichkeit seiner Nachbarin verblasste schnell unter den erdrückenden Bildern, die das Haus ihm bot. Das hellblaue Wachstuch auf dem Tisch. Die grüne Salatschüssel auf dem Kühlschrank, die Emma erst letzten Sommer dort abgestellt hatte. Zu wenig Platz in der Schublade, hatte sie geschimpft.

      Er unterdrückte das Bedürfnis, sich auf einen der Stühle fallen zu lassen. Sich fallen zu lassen käme dem Versinken in Selbstmitleid gleich. Und er wollte nicht versinken, weder in Selbstmitleid noch in quälenden Erinnerungen! Sie ist fort. Und kein selbstzerstörerischer Gedanke wird sie dir zurückbringen.

      Er verließ die Küche, um sich ins obere Stockwerk zu begeben, beherrscht von dem Drang, das Haus möglichst zügig zu mustern und jede Konfrontation schnell hinter sich zu bringen. Direkt neben der Treppe fiel sein Blick auf den Wandspiegel. Abrupt blieb er stehen. Für den Bruchteil einer Sekunde schien ihm das Bild des Mannes im Spiegel vertraut. Wie eine blasse Erinnerung an vergangene Tage drängte es sich in sein Bewusstsein, scheiterte aber im selben Augenblick an der mühsam erlernten Kunst des Verdrängens. Schnell wurde aus der Erinnerung an einen alten Bekannten wieder dasselbe konturlose Gesicht, das ihn seit Monaten bei den seltenen Blicken in den Spiegel ansah. Keine Mimik. Nicht mal der Ansatz einer Emotion.

      Die zwei kleinen Falten zwischen den Augenbrauen, ein Resultat jahrelanger konzentrierter Arbeit am Bildschirm. Die tiefen Schatten unter den Augen, die sich von gelegentlicher Anwesenheit am Morgen zu einer dauerhaften Erscheinung entwickelt hatten. Das dunkle, leicht zerzauste Haar, das nach Meinung seiner Schwester in etwas zu lang geratene Koteletten überging. Insgesamt ein wenig eindrucksvoller Anblick. Aber wie viel ist ein Eindruck wert, wenn es niemanden mehr gibt, den es zu beeindrucken gilt?

      Er strich sich mit den Fingern über die Wangen, wie er es manchmal tat, wenn er müde wurde, und wandte sich vom Spiegel ab. Selbst der Anblick seines eigenen Gesichts weckte Erinnerungen in ihm. Erinnerungen, die er sorgsam zu vermeiden suchte.

      Während er die Treppe hinaufging, überkam ihn ein Anflug von Angst. Wie sollte er es fertigbringen, das Schlafzimmer zu betreten, geschweige denn darin zu übernachten? Dasselbe Zimmer, das er sechs Jahre lang mit Emma geteilt hatte? Das Zimmer, in dem sie sich noch am Morgen ihres Todes geliebt hatten?

      Die Tür war angewinkelt, als er die obere Etage erreichte. Bereits beim ersten Blick durch den Spalt gewann der Raum an Macht. Es schien ihm beinahe unmöglich, sie zu ertragen. Bleib stark! Du kannst dich nicht für immer verstecken. Du musst dich den Dingen stellen.

      Mit schwachen Händen schob er die Tür auf. Das vertraute Bild von ockerfarbenen Vorhängen, die das breite Fenster umhüllten. Die kleine Stehlampe in der hinteren Ecke des Raumes, die Emma im ersten Jahr ihrer Ehe vom Flohmarkt mitgebracht hatte. Die Fotos auf der Kommode neben dem Kleiderschrank. Ihr Morgenmantel an einem Haken neben der Tür. Unfähig, sich weiteren Eindrücken auszusetzen, ließ er sich auf das Bett fallen. Woher sollte er die Kraft nehmen, hierzubleiben? Auch nur eine einzige Sekunde ohne sie?

      Mühsam versuchte er, sich an die Zeit vor Emma zu erinnern. Sein Junggesellenleben und die Nächte, die er mit seinen Kumpels bis zum Morgengrauen am Billardtisch verbracht hatte. Ein Rauhbein hatte Marie ihn damals immer genannt. Einen unbelehrbaren Einzelgänger, dazu verdammt, eines Tages einsam zu sterben, wenn er nicht endlich lernen würde, sich auf andere Menschen einzulassen. „Irgendwo da draußen wartet sie auf dich, Simon“, hatte sie gesagt. „Die Eine, die sich der Mission stellen möchte, aus einem mürrischen Egoisten einen liebenswerten Kerl zu machen. Nur zwischen Rauchschwaden und betrunkenen Dummköpfen wirst du sie nicht finden.“ Erst nachdem er Emma kennengelernt hatte, verstand er, was Marie gemeint hatte.

      Was war übrig geblieben von den Dingen, die ihn damals am Alleinsein gereizt hatten? Die Abende mit Freunden oder die Begeisterung für seine Arbeit, über der er manchmal stundenlang das Essen vergaß. Wo war er hin, der Reiz des Lebens, das er vor Emma geführt hatte?

      Er spielte mit dem Gedanken, das Haus wieder zu verlassen. Besser heute als morgen. Diesmal für immer. Marie würde ihm sicher dabei helfen, es zu verkaufen. Er könnte zu ihr ziehen. Warum nicht? Sie selbst hatte gesagt, wie sehr er ihnen fehlen würde, besonders den Kindern. Timmy und Rhea wären selig, wenn er zurückkäme. Und die Arbeit als Übersetzer könnte er von überall aus erledigen. Ein Vorzug seines Berufes, der ihm nun endlich einmal zugutekäme.

      Doch im selben Augenblick verwarf er die Idee wieder. So sehr ihn die Kinder auch ins Herz geschlossen hatten: Marie und Jan hatten ein eigenes Leben, eine eigene Familie. Sein Aufenthalt hatte sich ohnehin schon in unverzeihliche Länge gezogen. Wie konnte er erwarten, dass sie ihren Alltag, ihr Familienleben für ihn dauerhaft aus den gewohnten Bahnen reißen würden?

      Er ließ den Kopf auf die Hände sinken und starrte durch die offene Tür auf den Dielenboden. Ein paar Staubflocken schienen im Licht, das durch die Jalousien des Dachfensters auf den Boden fiel, zu tanzen. In einem Haus, das nicht vertrauter und doch auch kaum befremdlicher sein könnte. Ein Haus, um das er sich nun allein kümmern musste.

      Sein Blick wanderte auf den Nachtschrank neben dem Bett. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er auf Emmas Seite des Bettes saß. Ihr Nachtschrank. Der kleine Funkwecker, den in Ermangelung einer funktionierenden Batterie nur noch ein blankes Display schmückte. Das rote Lederetui für ihre Lesebrille. Daneben ein Buch mit leicht ausgefransten Ecken. Er erinnerte sich, dass sie am letzten Abend darin gelesen hatte. Das leichte Lächeln auf ihren Lippen, wenn sie mit dem Blick auf einer Seite verharrte und dieselben Zeilen immer und immer wieder las.

      Intuitiv griff er danach. Das Glück im Augenwinkel. Er strich mit den Fingern über den Titel und öffnete das Buch auf der mit einem schmalen Lesezeichen versehenen Seite. Ein Schauer überkam ihn bei der Vorstellung, dieselben Worte zu lesen, die sie vor ihrem Tod gelesen hatte. Er versuchte sich vorzustellen, welche Emotionen sie bei ihr ausgelöst hatten, welche Gedanken ihr dabei durch den Kopf gegangen waren. Die Worte eines Buchs, das er nun selbst in den Händen hielt.

      Der altvertraute Druck legte sich auf seine Brust. Sein Atem wurde schwer. Gleichzeitig fühlte er sich ihr allein durch die Berührung der Seite näher. Eine Nähe, die er aufgrund ihrer Unerträglichkeit immer wieder mied und der er doch in diesem Moment, diesem einen Moment der Rückkehr, nicht aus dem Weg gehen konnte.

      Er nahm das Lesezeichen heraus. Seite 139. Unvermittelt begann er zu lesen:

       Keine Stunde vergeht, im Grunde nicht mal eine Minute, in der ich nicht an dich denke. Man sagt, Gedanken an die Vergangenheit seien selbstzerstörerisch, vor allem dann, wenn man bestimmte Dinge nicht mehr ändern kann. Dennoch habe ich bis heute nicht gelernt, Abstand zu gewinnen. Wie kann ich von etwas Abstand gewinnen,

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