DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL. Nancy Salchow
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Wieder die Geschichte vom zwielichtigen Künstler. Das rote Cabriolet. Und dieselben schmerzvollen Worte, als er zur Seite 139 zurückblätterte. Wie war das möglich? War er dabei, den Verstand zu verlieren? Es hatte lediglich zwei Gläser Whiskey getrunken. Und noch nicht einmal auf leeren Magen. Der Lammbraten hatte ihm sogar so gut geschmeckt, dass er sich einen Nachschlag gegönnt hatte.
*
„Ich verstehe nicht, was du mir damit sagen willst, Simon.“ Marie hängte ihren Mantel in einer Selbstverständlichkeit an die Garderobe, als hätte sie ihn erst vor wenigen Tagen in diesem Haus besucht.
„Was ich dir damit sagen will?“ Er schlug das Buch erneut auf. „Ich will dir sagen, dass das Buch, das Emma vor ihrem Tod gelesen hat, kein gewöhnliches Buch ist. Dass es seinen Inhalt ändert. Und zwar täglich.“
Sie nahm es aus seiner Hand, um es an der markierten Seite zu öffnen. Für einen kurzen Moment las sie.
„Traurig“, sagte sie schließlich und schlug es wieder zu. „Zu traurig, wenn du mich fragst. Und nicht unbedingt die geeignete Lektüre, um sich abzulenken. Du solltest lieber einen Krimi lesen. Oder mal wieder ins Kino gehen.“
Sie legte das Buch auf die Kommode und griff nach dem Korb zu ihren Füßen. „Außerdem bin ich nicht hier, um mich mit dir über Bücher zu unterhalten, sondern um zu schauen, was mein kleiner Bruder so treibt.“
„Ich arbeite, Marie. Und ich esse. Manchmal schlafe ich sogar.“ Er folgte ihr in die Küche.
„Wie kommst du mit deinem aktuellen Projekt voran? Ist es immer noch so langweilig?“ Nach und nach packte sie Konservendosen aus dem Korb, eine Flasche Sirup, ein paar Äpfel.
„Du musst mich nicht mit Lebensmitteln versorgen. Der Supermarkt ist gleich um die Ecke. Bist du etwa deshalb zwei Stunden hergefahren?“
„Ich wollte dich sehen, Simon.“ Sie ließ sich auf einen der Stühle fallen. „Die Lebensmittel sind lediglich ein Mitbringsel für den Fall, dass du noch nicht zum Einkaufen gekommen bist.“
Er nahm einen der Äpfel und lehnte sich an den Kühlschrank. „Ich meine es ernst, Marie. Mit diesem Buch stimmt etwas nicht. Diese Frau –,“ er suchte nach Worten, „diese Frau scheint meinen Schmerz zu kennen, dasselbe durchzumachen wie ich. Wer auch immer sie ist.“
Ihr Blick verlor nicht an Skepsis, dennoch schien sie bemüht, seine Eindrücke nicht sofort vom Tisch zu wischen. „Vielleicht schildert die Autorin einfach nur persönliche Erlebnisse. Oder die Geschichte handelt ganz einfach davon. Solche Bücher gibt es nun mal. Und manchen Menschen helfen sie ja vielleicht auch.“
„Das ist es ja gerade. Die Geschichte handelt von etwas völlig anderem. Es geht um einen Mann und eine Frau, die auf der Suche nach einem skrupellosen Betrüger sind, um ihrer eigenen Vergangenheit auf die Schliche zu kommen. Ich habe im Klappentext nachgelesen, und auch die restlichen Seiten deuten darauf hin.“
„Die restlichen Seiten?“
„Alle Seiten außer der Seite 139.“
Er warf ihr einen eindringlichen Blick zu, den sie fragend erwiderte.
„Verstehst du nicht, Marie? Seite 139. Der 13.9. Der Tag, an dem ...“
„Findest du nicht, dass du da etwas zu viel hineininterpretierst?“ Sie schob den Korb zur Seite.
„Hineininterpretierst? Marie, ich bin doch nicht verrückt. Ich weiß, was ich gesehen habe. Es ist der dritte Tag und der dritte Eintrag. Jedes Mal ein anderer. Und ich bin mir sicher, wenn ich morgen hineinschaue ...“
„Morgen wirst du aber nicht wieder hineinschauen“, fiel sie ihm ins Wort. „Morgen wirst du dich wieder voll und ganz auf deine Arbeit konzentrieren. Vielleicht ein Spaziergang im Park. Oder du nimmst eine der netten Einladungen von Frau Jäger zum Kaffee an.“
„Der Park. Genau darüber hat sie auch geschrieben. Von einem Park, in dem sie früher mit ihm gemeinsam war und den sie jetzt nur noch allein besuchen kann. Als ich heute früh nachlesen wollte, konnte ich aber nichts mehr darüber finden. Die Worte waren wie ausgelöscht – und durch neue ersetzt worden.“
„Das ist doch albern.“
Er legte den Apfel zurück auf den Tisch und nahm auf dem Stuhl neben ihr Platz.
„Ich weiß doch selbst, dass es albern ist. Und wenn es irgendein Buch wäre, könnte ich es vielleicht ignorieren.“ Zögernd griff er nach ihrer Hand. „Aber es ist ihr Buch, Marie. Das letzte Buch, das sie vor ihrem Tod gelesen hat.“
Noch während er auf eine Antwort von ihr wartete, wurde ihm die eigene Beharrlichkeit bewusst, mit der er sie zu überzeugen versuchte. Das Fehlen jeder für ihn sonst so typischen Skepsis. Die Priorität, die die Aufgabe innerhalb weniger Stunden eingenommen hatte, einem noch unbekannten Ziel zu folgen. Ein Ziel, das er noch nicht einordnen konnte und das ihn doch auf eine merkwürdige Art fesselte.
„Seite 139, sagst du?“
„Ja.“ Er umfasste ihre Hand ein wenig fester. „Seite 139.“
Kapitel 3
„Das Glück im Augenwinkel, sagten Sie?“ Der Mann mit dem strengen Blick und dem ebenfalls ein gewisses Maß an Strenge ausstrahlenden Namensschild L. Reichardt tippte den Titel in die Tastatur, als täte er den lieben langen Tag nichts anderes. „Ah, da haben wir es ja. Das Glück im Augenwinkel von Nancy Salchow.“
„Nancy Salchow. Ja richtig.“
Noch bevor Simon über seine Schulter hinweg einen Blick auf den Bildschirm werfen konnte, begab sich der Mann zu einem der Regale, fuhr mit dem Finger über die Buchrücken, um schließlich ein Exemplar herauszuziehen.
„Da ist es ja schon“, sagte er und reichte es Simon, um sich kurz darauf dem nächsten Kunden zuzuwenden, der mit einem Lexikon in der Hand um Auskunft bat.
Simon setzte sich auf einen der Lesesessel zwischen den Regalen und begann, in dem Buch zu blättern. Wie von selbst suchten seine Finger die Seite 139. Und tatsächlich. So wie er vermutet hatte. Rose. Adam. Das Cabriolet. Die Geschichte über den skrupellosen Schwindler.
Er legte das Buch auf den kleinen Tisch der Leseecke und verließ die Bibliothek, ohne sich noch einmal umzudrehen. Vor dem Gebäude stürmte er hastig in seinen parkenden Wagen und griff nach dem Buch auf dem Beifahrersitz, noch bevor er den Schlüssel in das Zündschloss stecken konnte.
Claudia fragt mich ständig, wann ich endlich ihren Cousin treffen will. Detlef heißt er. Kannst du dir das vorstellen? Sie will mich ernsthaft verkuppeln. Aber sie versteht nicht, wie lächerlich der Gedanke ist, dich durch einen Anderen zu ersetzen. Und ich will ihr nicht wehtun, indem ich es ihr so direkt sage. Immerhin ist sie die einzige Freundin, die mir geblieben ist. Alle anderen haben sich abgewandt, nachdem ich monatelang jeden Annäherungsversuch abgeblockt habe. Nur sie hat sich nicht abschrecken lassen, hat mich immer wieder in irgendein Bistro geschleppt, und sei es nur für einen lauwarmen Kaffee. Einmal hat sie mich sogar dazu gebracht, mit ihr ins Kino zu gehen. Worum es in dem Film ging, habe ich bereits vergessen. Nett fand ich es trotzdem. Sie bemüht sich. Sie bemüht sich