DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL. Nancy Salchow
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Und wenn er doch verrückt wurde? Wenn ihm die Trauer um Emma den Verstand vernebelte und jeglichen Bezug zur Realität verlieren ließ?
Er schlug das Buch zu, warf es ins Handschuhfach und presste seine Hand ruckartig dagegen. Warum tat er sich das an? Warum interessierte es ihn überhaupt, was es mit diesem Buch auf sich hatte? Es konnte ihm doch egal sein. Vollkommen egal. Wer auch immer diese Frau war, was auch immer sie durchmachte: Sie erinnerte ihn nur umso schmerzhafter an seinen eigenen Verlust, an all die schönen Momente, die von Tag zu Tag immer mehr verblassten. Was war es, das ihn diesen Schmerz dennoch immer wieder suchen ließ? Und warum gelang es ihm so schlecht, sich der Bindung, die zwischen ihm und der Frau zu bestehen schien, zu entziehen?
Wütend kurbelte er das Fenster seines alten Vans herunter, startete den Motor und verließ den Parkplatz. Es war an der Zeit, dass er einen klaren Kopf bekam, sich in die Arbeit stürzte und all die Dinge tat, die ihm in den vergangenen Monaten während seines Aufenthaltes bei Marie geholfen hatten, nicht verrückt zu werden.
Doch schon auf den ersten Kilometern seiner Rückfahrt dachte er wieder an das eigenartige Buch, als er einen Buchladen am Rande der Straße passierte. Ein Geschäft, dem er nie zuvor sonderlich Beachtung geschenkt hatte. Unweigerlich drängten sich ihm unzusammenhängende Sätze der fremden Frau ins Bewusstsein. Im Buchladen interessiert es niemanden, ob ich heiser bin. Ich spiele mit dem Gedanken, Herrn Volkmann anzubieten, täglich eine Stunde länger zu arbeiten.
Er trat auf die Bremse und parkte den Wagen neben dem Bürgersteig. Ehe er sich der Absurdität seiner Idee, oder vielmehr: seines Drangs, bewusst werden konnte, schlug er die Wagentür zu und betrat den kleinen Laden.
Hinter dem Tresen bemerkte er eine unscheinbare Frau, leicht untersetzt, vielleicht in den Fünfzigern. Ein junges Pärchen stand kichernd neben einem der Regale, in ihren Händen ein Buch, das scheinbar für große Erheiterung sorgte. Ansonsten war der Laden leer.
„Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“ Die Angestellte schien seine Verunsicherung bemerkt zu haben.
„Ich –“ Er trat einen Schritt näher, während er ihr Namensschild musterte. Tessa Unger.
„Ja?“ Ihr Lächeln war freundlich. Erwartend, aber unaufdringlich.
„Ich –“, begann er erneut. „Ich suche jemanden.“
„Von wem ist denn das Buch?“
„Oh, kein Buch“, verbesserte er. „Eine Angestellte. Nita ist ihr Name.“
Im selben Augenblick bereute er seine Frage. Unabhängig von der Wahrscheinlichkeit, Nita irgendwo, geschweige denn hier anzutreffen: Wie sollte er die Suche nach ihr begründen?
„Tut mir leid. Eine Nita arbeitet nicht bei uns.“
„Und ein Herr Volkmann vielleicht?“
„Auch kein Herr Volkmann.“
Sie fügte keine weitere Antwort hinzu, und auch sonst blieb ihr Lächeln unverändert. Beinahe nichts sagend.
„Es tut mir leid, Sie gestört zu haben“, antwortete er schließlich, sich seines Übermutes bewusst werdend, während er sich der Tür zuwandte und den Laden so schnell verließ, wie er ihn betreten hatte.
„Vielleicht finden Sie in einem anderen Geschäft, was Sie suchen“, hörte er sie hinter sich sagen, bevor die Tür ins Schloss fiel.
*
„Du siehst gut aus, Alter.“
Rico begrüßte ihn mit einem kräftigen Schlag auf die Schulter, der Simon für einen Moment aus der Lethargie riss. Wie lange hatte er ihn nicht gesehen? Dreizehn Monate? Vierzehn? Das letzte gemeinsame Abendessen hatte am vierten Hochzeitstag von Rico und Laura stattgefunden. Simon erinnerte sich so genau daran, weil er am Tag zuvor eine heftige Diskussion mit Emma darüber geführt hatte, ob ein Geschenk zusätzlich zu den Blumen übertrieben war. Er fand es übertrieben. Sie fand es unerhört, dass er es übertrieben fand.
„Danke, du hast dich auch gut gehalten“, antwortete er, während er das Haus betrat. Rico. Sein ehemals bester Freund. Und eigentlich auch heute noch, wenn eine Freundschaft selbst nach einem Jahr Abstinenz noch als solche gezählt werden durfte.
„Es gibt einen Hühnchenauflauf. Oder so was Ähnliches. Laura wird es sicher besser erklären können als ich.“ Er legte die Hände von hinten auf seine Schultern und schob ihn mit freundschaftlicher Bestimmtheit ins Esszimmer.
Simon musterte den rustikalen Tisch, das akkurat plazierte Geschirr, die Kristallgläser und die bordeauxroten Stoffservietten zwischen dem blitzenden Besteck.
„Hier scheint sich nicht viel verändert zu haben“, sagte er. „Dasselbe geschickte Händchen beim Dekorieren.“
„Du kennst Laura“, antwortete Rico und zog einen der Stühle zurück. „Bei ihr muss immer alles perfekt sein.“
Simon setzte sich auf einen der Plätze an der gegenüberliegenden Seite. Für einen kurzen Moment wurde er sich der neuen Situation bewusst, des leeren Platzes neben sich und der ungleichmäßigen Verteilung der Personen am Tisch, die mit Lauras Betreten des Esszimmers entstehen würde. Bilder von fröhlichen Abenden zu viert, lange Gespräche, die sich nicht selten bis in die Nacht hingezogen hatten, wurden in ihm wach. Doch im selben Augenblick verdrängte er die aufkeimende Erinnerung wieder. Eine Taktik, die er mittlerweile wie das An- und Ausknipsen von zu grellem Licht beherrschte.
„Erzähl schon, wie geht’s dir?“ Rico warf ihm einen neugierigen Blick zu. Eine Neugier, die Simon unangenehm war und die die Taktik des An- und Ausknipsens erschwerte.
„Ich schlage mich durch“, antwortete Simon.
„Es wurde ja auch Zeit, dass du wieder nach Hause kommst. Wir haben dich vermisst.“
Simon wollte antworten, doch keine Antwort schien ihm angebracht. Sollte er sagen, dass er ihn und Laura auch vermisst hatte? Dass er ebenfalls froh war, wieder hier zu sein? Die Wahrheit war, dass er nicht einen Moment an die beiden gedacht hatte, sich noch dazu alles andere als wohl in seiner alten Heimat fühlte.
„Stimmt. Es wurde Zeit, dass ich zurückkomme“, antwortete er diplomatisch und griff nach dem Wasserglas neben seinem Teller.
„Heeey!“ Laura betrat mit einer übergroßen Auflaufform in den Händen den Raum. „Da ist ja unser Ehrengast.“ Ihr Lächeln war aufrichtig, und Simon bemerkte seine ebenfalls aufrichtige Freude, sie zu sehen. So sehr er sich hin und wieder an Ricos schroffer Art störte, so sehr wusste er die ehrliche Herzlichkeit seiner Frau zu schätzen.
Sie stellte die Form auf einer Wärmplatte ab und fiel ihm um den Hals. Ein flüchtiger Kuss auf die Wange, eine etwas zu lange Umarmung. Fast hatte er den Eindruck, ein Schluchzen wahrzunehmen. Doch als sie sich wieder von ihm löste und einen Schritt zurücktrat, lächelte sie ihn mit dem aufbauenden Blick an, den er erwartet hatte.
„Es ist so schön, dass du da bist“, sagte sie leise, und er spürte, dass sie es meinte.
Sie