DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL. Nancy Salchow
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Und überhaupt, er sollte aufhören zu lesen.
*
Sie schob den Bleistift in den Anspitzer, drehte ihn einige Male und betrachtete die hölzernen Kringel, die in den Papierkorb neben ihrem Schreibtisch fielen. Nach all den Jahren hatte sie ihre Abneigung gegen Kugelschreiber noch immer nicht abgelegt. Sie mochte den weichen Druck des Bleistifts auf rauhem Papier, liebte es, wie die Worte aus silbergrauen Buchstaben die Seiten füllten.
Seit Patricks Tod hatte das Schreiben jedoch eine ganz andere Bedeutung angenommen. Kein harmloser Zeitvertreib, keine unschuldigen Kritzeleien. Vielmehr war es zu einer ganz eigenen Form der Trauer geworden. Ein verzweifelter Weg, das letzte bisschen Illusion seiner Anwesenheit am Leben zu erhalten. So absurd es auch war – und so bewusst sie sich diese Tatsache auch immer wieder machte –, für die wenigen Minuten, in denen sie die Briefe an ihn in das Tagebuch schrieb, hatte sie das Gefühl, dass er da war. Dass sie mit ihm sprach und er ihr zuhörte. So wie früher.
Sie strich mit den Fingern über die letzten Zeilen. Aber in Wahrheit ist jede Tätigkeit nur farblose Kulisse für meine Gedanken. Gedanken, die noch immer, nach all der Zeit, nur um dich kreisen.
Langsam schloss sie die Augen. Sie hatte im Laufe der letzten Monate das Weinen nahezu gänzlich verlernt. Ein Umstand, für den sie dankbar war. Tränen raubten ihr Kraft. Kraft, die sie brauchte, um der Welt oder zumindest dem, was für sie davon übrig geblieben war, die Stirn zu bieten.
*
Ihr Lächeln strahlt wie die Sonne, die sich ihren Weg durch die Äste des Kirschbaumes sucht. Ein paar goldglänzende Strähnen haben sich aus ihrem Zopf gelöst und umspielen ihre geröteten Wangen, während sie sich lächelnd auf die Decke fallen lässt. Grashalme, die an nackten Füßen kitzeln. Ein geöffneter Picknickkorb. Rotwein aus Plastikbechern. Er legt sich neben sie und streicht ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Ein Kuss auf den Hals, der ohne Berührung stattzufinden scheint. Und immer wieder dasselbe Lächeln.
Plötzlich schieben sich Wolken vor die Sonne. Der Baum wirft einen scheinbar endlosen Schatten über die Decke. Ein kurzer Blick in den Himmel. Als er wieder zu ihr herabschauen, ihren Blick suchen will, ist sie verschwunden. Die Flasche Rotwein liegt ausgelaufen neben der Decke im Schlamm. Beißende Kälte. Und ein Sturm, der die Plastikbecher über den durchnässten Rasen wirft.
Er setzt sich aufrecht, als ein kleines Blatt Papier, durch den Wind getragen, an seinem Arm hängen bleibt. Mit zitternden Händen streicht er es glatt, um gleich darauf zu erkennen, dass es ein Kalenderblatt ist.
Der 13. September 2010.
Wie von einer Ohrfeige wachgerüttelt, riss er sich selbst aus dem Schlaf. Die Bettdecke lag neben ihm, das Laken zerwühlt zu seinen Füßen. Es war nicht das erste Mal, dass der Traum ihn heimsuchte, und dennoch schien er ihm intensiver, realistischer als all die Male zuvor. Ob es am Haus lag? Daran, dass er ihre Anwesenheit hier so viel deutlicher spürte?
Instinktiv griff er nach dem Handy auf dem Nachtschrank, um Marie anzurufen, und legte es im nächsten Moment wieder zur Seite. Fünf Uhr morgens. Ganz sicher schlief sie noch. Und wie konnte er von ihr erwarten, sich keine Sorgen um ihn zu machen, wenn er ihr immer wieder neuen Anlass dazu gab? Solange er denken konnte, war er stets der Unstrukturierte, der Konfuse von beiden gewesen, der egozentrische Einzelkämpfer, während Marie stets die Position der umsorgenden, vernünftigen und bodenständigen Schwester eingenommen hatte. Wie oft hatte sie in ihrer Jugend die Spuren seiner durchzechten Nächte verwischt, um ihm Ärger mit den Eltern zu ersparen. Wie viele Male hatte sie ihm die Leviten gelesen, wenn er sich wieder mal dagegen sträubte, dem Familienalltag beizuwohnen anstatt sich stundenlang im Zeichnen von Comics oder Schreiben von Kurzgeschichten zu verlieren. Seine Bekanntschaft mit Emma hatte seine Weltanschauung um 180 Grad gedreht, ihm die Augen für den Rest der Welt geöffnet, nur um dieselbe Welt mit ihrem Tod völlig aus den Fugen zu reißen. Ein Ereignis, das Marie über Nacht in die alte Position der überfürsorglichen Schwester zurückgeworfen hatte. Ein Umstand, den er, nach allem, was sie in den letzten Monaten für ihn getan hatte, nicht mehr ausnutzen wollte. Zumindest nicht um fünf Uhr morgens.
Er schob sich an der Bettlehne hoch und blieb für einen Moment regungslos sitzen. Er würde sich Tabletten besorgen. Gleich heute. In den ersten Wochen nach Emmas Tod hatte er Beruhigungsmittel verschrieben bekommen, die ihm lange Zeit treue Dienste erwiesen. Warum sollte er nicht erneut auf ihre Wirkung bauen?
Mit angewinkelten Knien verharrte er eine Weile in der Position, bis ihm das Buch auf dem Nachtschrank auffiel. Von einem unerklärlichen Drang getrieben, der Suche nach irgendeiner auch noch so befremdlichen Form von Nähe, griff er danach.
Die Tage werden kürzer, sagt man. Aber ich finde, dass sie, je weiter das Jahr voranschreitet, immer länger werden. Die Dunkelheit zieht sich in endloser Schleife dahin und ergreift immer mehr Besitz von mir. Manchmal habe ich das Gefühl, gar nicht mehr zu atmen. Dann kneife ich mir selbst in den Arm, um zu prüfen, ob ich noch einen Schmerz spüre. Anderen Schmerz. Schmerz, den man früher einmal als Schmerz definierte. Damals, als man noch nicht wusste, was wirklicher Schmerz eigentlich ist.
Ich habe unsere Bilder von den Wänden und Regalen genommen und sie in einer Kiste auf dem Dachboden verstaut, um sie gleich am nächsten Tag wieder herauszuholen. Wie konnte ich nur glauben, es mir damit leichter zu machen?
Zumindest die Arbeit im Buchladen lenkt mich ein wenig ab. Und ich bin dankbar dafür. All die Bücher, die Geschichten aus einer Welt, in der vieles noch so gut, so vollkommen, so unschuldig ist. Ich spiele sogar mit dem Gedanken, Herrn Volkmann anzubieten, täglich eine Stunde länger zu arbeiten. Für denselben Lohn. Zweifellos wird er mich für verrückt halten. Aber was kann mich das stören?
Er war sich sicher, dass es dieselbe Seite wie am Abend zuvor war. Und wieder schien der Inhalt ein vollkommen anderer zu sein. Er schaute auf die Seitenzahl. 139. Unvermittelt drängten sich ihm die Bilder des Traumes auf. Das Kalenderblatt, das der Wind zu ihm getrieben hatte. Der 13. September. Seite 139. Konnte das tatsächlich ein Zufall sein? Und was hatte es mit dem seltsamen Inhalt auf sich? Die Worte einer Frau, die ihm so vertraut erschienen und doch vollkommen fremd waren?
Er blätterte eine Seite zurück.
Rose schlug die Wagentür hinter sich zu und folgte ihm in schnellen Schritten zur Haustür.
„Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?“
„Ganz sicher“, antwortete Adam. „Er hat die Adresse am Telefon zweimal wiederholt. Außerdem gehört ihm der Wagen, der in der Auffahrt steht.“
Sie drehte sich um und musterte das rote Cabriolet. Wie konnte sich ein mittelloser Künstler solch ein Auto leisten? Hatte Adam womöglich doch recht und sie waren auf einen skrupellosen Schwindler hereingefallen?
Als Simon das Ende der Seite erreichte und seinen Blick auf die nächste Seite wandern ließ, fiel ihm das abrupte Abbrechen der Geschichte auf. Wieder die verzweifelten Worte der Trauer. Die Frau aus dem Buchladen. Die Fremde, die scheinbar einen ebenso großen Verlust zu verzeichnen hatte wie er.
Hastig blätterte er weiter.
„Ein rotes Cabriolet?“, fragte sie ungläubig. „Woher hat er das Geld für so einen