Fall eines Engels. Simone Lilly

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Fall eines Engels - Simone Lilly

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Häuser, Schulen, alles.“, dann war er stehengeblieben, hatte sich die kurzen grauen Haare aus dem faltigen Gesicht gestrichen und freundlich nach einem Glas Wasser verlangt. „Doch halt, eine Sache wäre es. Unten, auf der Erde, würde man mich nicht „Adriel“ nennen.“, er hatte gelacht und getrunken. Raphal ärgerte sich selbst Jahre nach diesem Gespräch über sein Unwissen. Wie dumm war er gewesen?

      „Wie nennt man dich sonst, Adriel?“

      „Großvater, mein Junge.“

      „Großvater“ war ein schauriges Wort, hart und … seltsam lag es ihm auf der Zunge. Insgeheim hatte er nichts gegen die Menschen, zwar hatte er noch nie welche gesehen, doch taten sie ihnen nichts, sie ließen sie in Frieden. Mehr wollte er nicht. Sollten sie doch ruhig existieren, aber ohne ihrem Volk in den Weg zu geraten.

      Skeptisch hob er die Arme, nur so konnte er einen freien Blick auf seine schneeweißen Flügel haben. Weich fielen sie von seiner Schulter nach unten, waren bis zu seinem Becken eng an seinen Körper gelegt und flatterten erst von dort aus frei um seine Beine. Der Spiegel vibrierte leicht, als sein Bruder direkt neben seinem Zimmer die Treppen hinunterstob. Raphal atmete durch, wartete geduldig, bis sich das wacklige Gestell beruhigt hatte und er wieder ungehindert hineinblicken konnte.

      Mit seinen ein Meter neunzig reichte der Spiegel ihm gerade bis zum Kopf, knapp oberhalb seiner Stirn erstreckte sich schon der bronzefarbene Rahmen, welcher zusätzlich mit Schnitzereien verziert worden war. Seine goldblonden Haare bekam er gar nicht erst zu Gesicht. Doch das brauchte er auch nicht. Er sah sein dünnes und rundes Kinn, seine strahlend blauen Augen, seine spitze Nase und seine vollen Lippen. Er sah seinen robusten Körper und sein starkes Becken. Wie jeden Tag. Nichts Neues.

      „Raphal!“, diesmal klang es nach seinem Vater. Eilig sprang er nach oben, mied es jede Stufe einzeln zu nehmen und flog gleich durch das Treppenhaus hinunter in die Küche. Wütend stellte seine Mutter eine Schale mit Milch auf den Tisch, an dem schon sein Vater Linal und sein jüngerer Bruder Adral saßen. Adral war das genaue Gegenteil von ihm, seine Flügel waren rabenschwarz, seine Haare ebenfalls. Das Gesicht und den Körper konnte man sowieso nicht beurteilen, denn jeder wusste, dass sie alle gleich aussahen.

      „Entschuldige“, sagte er schnell zu seiner Mutter, setzte sich und verschränkte die Arme, anstatt etwas zu essen. Niemand sagte etwas, sein Vater trank Milch und las eine Zeitung, sein Bruder hatte damit begonnen, wie ein kleines Kind auf den Tisch zu kritzeln. Dass die Gabel dabei tiefe Fahrer in das saubere Holz zog, war ihm egal.

      „Was tust du da?“, fragte Raphal amüsiert und freudig darüber, dass diesmal nicht er selbst im Begriff war Ärger zu bekommen.

      „Mir ist langweilig, wie jeden Tag.“

      Noch ehe Raphal etwas erwidern konnte, fuhr ihnen ihr Vater dazwischen. „Adral fängt das schon wieder an? Wir hatten die Diskussion erst gestern!“ Seine erhobene Stimme brachte ihm nichts. Adral zuckte nicht einmal zusammen, ruhig legte er das Besteck wieder zurück, wedelte aufgebracht mit den Flügeln und lehnte sich dann aber gemütlich in seinem Stuhl zurück. Ihr Vater erhob sich. „Ich werde jetzt gehen. Es wird Zeit, dass eure zweite Ausbildung beginnt. Ihr werdet gelangweilt.“

      „Ach wirklich.“

      Kurz bevor er die Tür öffnete, strafte er Adral mit einem kurzen Blick, ließ es dann aber sein ihn zurechtzuweisen und stolperte aus dem Haus.

      Solange er ihn kannte, war Adral immer aufmüpfig gewesen. Er hatte niemals auf Anhieb das getan, was man ihm befohlen hatte. Vielleicht lag es an seinen Flügeln, das zumindest hatte Raphal geglaubt, doch auch ihre Eltern wurden als „Teufel“ bezeichnet, hingegen zu Adal waren sie aber friedlich und gefügig.

      „Ich gehe auch gleich“, sagte ihre Mutter, fuhr sich durch die schwarzen Locken und räumte das von seinem Vater stehengelassene Geschirr in die Spüle. „Räumt bitte auf und kommt nicht zu spät nachhause.“

      Sie nickten. Was erwartete ihre Mutter, etwa dass ihnen etwas zustoßen konnte? Immerhin war er schon zwanzig und Adral sechzehn Jahre alt, alt genug um schon für sich allein sprechen zu können.

      „Passt auf euch auf“, sagte sie noch einmal, beugte sich zu einem jeden ihrer Söhne und gab ihnen einen kurzen Kuss auf die Wange. „Ich werde bald wieder hier sein.“

      Sie nickten wieder, dann war auch ihre Mutter aus der Tür gegangen.

       Hilflos ausgeliefert

      Hart war er gegen das Holz seines Schrankes gedrückt worden. Dabei hatte Adral schwer nach Luft schnappen müssen, war beinahe nicht mehr fähig gewesen, aufrecht zu stehen, seine Knie zitterten, eines davon war sogar blutig geschlagen worden. Alle vier standen über ihm, sahen ihn an und hielten ihn an den Schultern fest.

      „Lasst mich los!“, schon damals war Adral immer aufbrausend gewesen. Doch dieses Mal hatte es ihm nicht viel geholfen, immer wieder hatten sie ihn gerüttelt, seinen Kopf dumpf gegen den Schrank geschlagen, sodass all seine Schulbücher an seinen Ohren vorbei hinunter auf den Boden gefallen waren.

      Raphal war dabei gestanden, er hatte sich aber nicht getraut einzugreifen, er war beliebt, jedenfalls so, dass man ihn in Ruhe ließ, obgleich seine Eltern und sein Bruder „Teufel“ waren, er gehörte dazu, diese Stellung wollte er nicht aufgeben. So wie viele von Adrals Freunden. Sie alle standen da, nicht weit von den Störenfrieden entfernt. Manche taten so, als würden sie nichts sehen, wieder andere schüttelten nur entsetzt die Köpfe.

       Nie würde er das Gefühl vergessen, wie seine Finger gejuckt und gekribbelt hatten, fast wäre er auf sie zugerast, hätte sie von seinem Bruder fortgerissen und sie dem Himmelsboden gleichgemacht.

      „Na was ist jetzt du Teufel? Kannst du dich nicht wehren?“

      Hämisch hatten sie gelacht, konnten sich in ihrem Zorn kaum noch beherrschen. Immer wieder hob einer von ihnen sein Bein und donnerte es gegen Adrals ohnehin schon blaues Schienbein. Er war damals noch ein kleines Kind gewesen und hatte begonnen hemmungslos zu weinen. Wozu sollte er seine Tränen auch zurückhalten? Jeder Knochen schmerzte ihm, er wusste, dass er von ihnen niemals gemocht werden würde.

      Die knochigen Finger der anderen Jungen hinterließen auf seinen Schultern bleiche Abdrücke, die nach und nach mit Blut unterliefen. Wimmernd knallte Adral auf den Boden, als ein greller Schrei, der den Beginn der Ausbildung verkündete, ertönte. Die Jungen waren bestrebt pünktlich zu kommen, deshalb schossen alle in die Luft und in verschiedene Himmelsrichtungen davon. Nur Adral blieb sitzen. Dicke Tränen rannen ihm über die Wangen als er seine Arme eng um seine Knie schlang.

      Lange hatte Raphal überlegt zu ihm zu gehen, ihn in den Arm zu nehmen und ihm zu sagen, wie leid es ihm tat und dass er auf die sogenannten Freunde, welche einfach zugesehen hatten, pfeifen konnte. Auf halbem Wege, als er schon in die Luft gestiegen war, kam ihm erst in den Sinn, dass er sogar sein Bruder war und Adral nicht geholfen hatte.

      Niemals würde er seine Feigheit vergessen können. Genauso wenig tat es Adral. Seitdem war er ihm gegenüber mehr als abweisend.

      „Adral warte!“, gemeinsam hatten auch sie ihr Elternhaus verlassen und waren auf dem Weg ihren Lieblingsort zu besuchen. „Das Tor“, so nannten sie es bot ihnen alles was sie wollten, Schutz und Ruhe vor den anderen, keiner traute sich dorthin zu gehen. Dabei verstand Raphal gar nicht was daran so schlimm war. Es war eben ein Tor, durch es konnte man auf die Erde treten. Aber man konnte auch nicht mehr zurück. Das war das Problem. Vermutlich hatten die anderen Angst aus Versehen hinunterzufallen und dann auf der Erde festzusitzen. Absoluter Unsinn, denn ein jeder

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