Fall eines Engels. Simone Lilly
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Eigentlich war er der Ältere, ihm sollte es egal sein, wie Adral mit ihm sprach, aber er dachte, nein hoffte immernoch sie würden sich gut verstehen und wären eine Einheit. Manchmal ja da gab es Zeiten, in denen er wahrlich daran glaubte. Bei gemeinsamen Festen konnten sie sich stundenlang unterhalten. Wenn es ihnen sonst zu langweilig wurde, waren sie immer füreinander da, doch Raphal hatte schon längst den Verdacht, Adral würde ihn für seine weißen Flügel verantwortlich machen und ihn dafür hassen. Doch was konnte er denn dafür? Er hatte doch nichts getan, jedenfalls nichts weiteres als ihn mehrmals verleugnet.
Langsam erhob er sich, sah sich erstmal unsicher um, entschied sich dann aber dazu, sich zu bürsten. Leicht durchfuhren die Borsten seine Strähnen und legten sie wieder ordentlich um seinen Kopf. Nach getaner Arbeit öffnete er die Zimmertür und spähte nach draußen in den Flur. Direkt seinem Zimmer gegenüber befand sich Adrals Raum. Es war ruhig, seine Tür war verschlossen, Raphal konnte nur auf eine weiße Mauer blicken. Ging man die Treppen hinunter, so wäre man im Wohnzimmer und im Schlafzimmer seiner Eltern, nichts war zu hören. Alle schliefen noch. Es musste verdammt früh sein. Froh darüber ging er wieder zurück, schloss die Tür und wandte sich zum Fenster. Er wollte fort von hier, wenigstens für den Moment. Einmal wo hinfliegen, ohne dass Adral bei ihm war. Neben ihm kam er sich langsam wie ein kleines Vögelchen vor, das ihm, wann immer das Herrchen das Haus verließ, treu hinterherflog.
Leichtfüßig glitt er aus dem Fenster in den Himmel. Vereinzelt standen noch schwache Sterne am Himmel, beruhigend funkelten sie auf ihn hinab. Jetzt da er nicht mehr im dunklen Raum war, wurde ihm erst richtig bewusst, wie hell es bereits geworden war, hier über den Wolken konnte er seine Hand deutlich vor Augen sehen. Wohin er genau wollte konnte Raphal noch nicht sagen, für den Moment aber genoss er die nächtliche Stille um ihn herum, einfach das Alleinsein, das er sich schon so lange wünschte. Ohne es überhaupt zu wissen. Immer war sein Bruder bei ihm, nein, immer war der Zwang bei Raphal seinem Bruder Gesellschaft leisten zu müssen.
Übermütig stach er nach oben, nach unten, fing sich kurz vor dem Boden jubelnd wieder auf und zischte wenige Meter in gefährlicher Tiefe geradeaus. Sein muskulöser Körper wand sich nur so um die schattenhaften Häuserecken, er verrenkte sich geradezu, damit er sich zwischen ihnen hindurchschlängeln konnte.
"So will ich immer fliegen." Am liebsten hätte er seine Gedanken lauthals in die Welt hinausgebrüllt, aus Angst aber jemanden zu wecken und sein neu gefundenes Glück damit zu zerstören, hielt er lieber den Mund.
Das Licht wurde heller. Er verfluchte die Zeit, was nahm sie ihnen doch alles. Ihr Leben, glückliche Augenblicke, geliebte Menschen, einfach alles. Schmollend zügelte er seinen Flug, streckte beide Flügel so weit es ging von sich und glitt durch die Luft, nein auf ihr, wurde vom Wind nur so getragen, hatte nur ab und an einen kräftigen Schlag zu tun, um nicht vollständig den Halt zu verlieren. Wohin wollte er? Zuerst fiel ihm nichts ein, doch dann kam es ihm plötzlich in den Sinn. Was war der schönste und friedlichste Ort, den es bei ihnen gab? Das Tor. Des Morgens strahlten die matten Sonnenstrahlen vermutlich nur so durch es hindurch, beleuchteten die Wolken rings umher und sorgten für eine heilige Atmosphäre. Er konnte es kaum erwarten dort anzukommen. Der Weg war nicht mehr weit, um den Rest zu Fuß zu gehen, setzte er sich selbst auf den Boden ab und ging voran. Doch eine unbekannte Kraft zwang ihn dazu, stehen zu bleiben. Gesang? Überrascht spitzte er die Ohren und ging, schlich näher. Es war tatsächlich Musik, eine herrlich leichte Melodie. Die Stimme war hoch, hoch und klar. Klar und unschuldig.
Genießend schloss er die Augen und ging näher. Diesmal nicht darum bedacht unerkannt zu bleiben. Was konnte es ihm schaden entdeckt zu werden.
Ein Mädchen ging fröhlich auf und ab. Es hatte lange blonde Haare, die ihr in luftigen Strähnen um die Schulter wehten. Wie alle Engel es taten, trug auch sie eine knappe Hose, sie reichte ihr lediglich bis zu der Mitte ihrer Oberschenkel, um die Brust hatte sie ein weißes Band gewickelt. Raphal war es nicht möglich ihr Gesicht zu sehen. Nur ihre Stimme, die konnte er hören. Langsam ging er näher, was tat sie um diese Uhrzeit hier draußen? Immer und immer wieder huschte sie von einem Ende zum anderen, beugte sich hinunter und blickte auf die Erde. Was suchte sie?
„Was suchst du?“, fragte er ganz unverblümt und verschränkte die Arme, dass er ihr sehr nahe gekommen war, hielt er nicht für schlimm. Ihr Lied verstummte, das Mädchen erschrak und wollte in die Luft fahren, doch er hielt sie mit einer raschen Handbewegung fest. Die Berührung löste etwas in ihm. Ein befremdendes Gefühl, überall in ihm begann es zu brodeln, er begann sich ungewohnt leicht und unbeschwert zu fühlen.
„Wer bist du?“, fragte das Mädchen anstatt zu antworten und machte sich vorsichtig los.
„Raphal, und du?“
Ihre Haut war von kleinen Punkten gesprenkelt, sie waren auf ihrer Nase und ihren Wangen. Ihre Augen strahlten mit der aufgehenden Sonne um die Wette, in einem solch tiefen Blau, dass Raphal beim besten Willen zwischen ihnen und dem Himmel keinen Unterschied erkennen konnte. „Es … tut mir leid, dass ich mich nicht zuerst vorgestellt habe, ich bin Raphal“, entschuldigte er sich dürftig, merkte aber sehrwohl, dass er im Begriff war, sich in den Tiefen ihrer Augen zu verlieren. Nicht einmal der Schlag ihrer Lider konnte seinen Blick aus ihnen verbannen. Sie schien es wohl zu bemerken. „Ich bin Merlina“, gab sie zurück und musterte ihn von oben bis unten. Raphal lies nicht locker, das obwohl er nun eine weitaus bessere Beschäftigung gefunden hatte, als ihr dämliche Fragen zu stellen.
„Was suchst du?“
Merlina lachte und entblöste eine Reihe schneeweißer, gerader Zähne. „Ich war noch nie hier draußen und wollte sehen, ob man von hier auf die Menschen blicken kann.“ Absurd!
„Das ist möglich“, sagte er stattdessen, nahm ihre Hand und führte sie zur Mauer, dort umschlang er frech ihre Hüften und flog mit ihr den kurzen Weg hinauf. Beide sahen hinunter. Doch es war zu dunkel und zu bewölkt, um auch nur das Geringste sehen zu können. „D … u warst noch nie hier?“ Merlina schüttelte den Kopf, als beide sich auf die harte Mauer setzten, die Füße ließen sie hinunter baumeln. „Meine Mutter erlaubt es mir nicht.“
Noch immer sah er verzaubert zu ihr. „Aus welchem Grund verbietet sie es?“
„Meine Schwester musste hierhergehen, sie war krank und sie musste gehen.“, mitten im Satz brach sie ab, ihre Stimme versagte, ihre wunderschöne Stimme. „… ich hatte gehofft sie hier sehen zu können, zu sehen was aus ihr geworden ist.“ „Wann war es?“
„Vor zehn Jahren.“
Keiner sagte mehr etwas. Die Sonne stach ihnen ungebrochen ins Gesicht. Raphal musste geblendet blinzeln, Merlina warf ihre Haare ins Gesicht und schien gänzlich hinter ihnen zu verschwinden, als wäre sie hinter einem dicken Vorhang. Fast schon bereute er es, denn so konnte er ihr engelsgleiches Gesicht nicht mehr sehen. „Du hast dich heute aus dem Haus geschlichen?“
Sie nickte, doch er konnte ihre erröteten Wangen beinahe fühlen.
„Das braucht dir nicht peinlich zu sein, auch ich habe mich aus meinem Zimmer geschlichen.“
„Wieso hast du es getan?“
„Ach, es ist nichts Schlimmes passiert, ich wollte aber einfach nur allein sein.“
Ein