Neander-Tales. Alexander Siewers

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Neander-Tales - Alexander Siewers

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Von wegen Mordhaus und so. Es soll ja kein Selbstmord gewesen sein. Ne Zeit lang hat doch so’n Kumpel vom Dobermann hier im Keller gehockt und Computer repariert. Der Wesendonk – ich kenn den Schleicher. Der hat schon einen Ruf. Und vor dem Dobermann hat da doch so’n Typ in der Wohnung seine ukrainische Freundin anschaffen lassen. Vielleicht hat das ja auch noch damit zu tun. Vielleicht war’s ja nur ein Versehen, die falsche Person.“

      Pulles Män schüttelt den Kopf und tippt sich an die Stirn: „Mensch Paule, du hast doch erzählt, dass der Typ mit der ukrainischen Freundin vor einem Jahr ausgezogen ist. So doof ist doch keine Mafia. Was strickst du dir da in deinem Gehirn zusammen? Das glaubst du doch selbst nicht. Ich glaube, du hast Muffensausen. Du brauchst dringend einen neuen Zementrührer, der auf dich aufpasst.“ Das heisere Lachen der alten Männer verebbt im Zigarettenqualm.

      3. Kapitel

      Marita Dobermann versucht sich auf „Wer wird Millionär“ zu konzentrieren. Sie ist alleine in ihrer Wohnung. Ihr jetziger Lebenspartner kommt erst in acht Wochen – und dann nur für 20 Tage – nach Deutschland. Er arbeitet für ein Brückenkonsortium in Vietnam. Auch zur Beerdigung von Rolf Dobermann konnte er nicht anreisen und seine Lebensgefährtin trösten. Ihr Ehemann war vor zehn Jahren an plötzlichem Herzversagen gestorben. Alkohol war sein täglich Brot – Flachmänner in Manteltaschen, Handschuhfächern, Schreibtischschubladen, Aktentaschen – seine treuesten Gefährten. „Die Sucht muss ja erblich sein“, murmelt Marita Dobermann – und empfindet bei dem Gedanken ein klein wenig Tröstung. Und heute? Sie hatte lange mit Vietnam telefoniert. Sie seufzt. Ein energisches Sommergewitter patscht gegen die Fensterscheiben. Hatte sie schon zu viel Bordeaux getrunken, als sie das Gesicht Besenbinders mit der markant fleischigen Nase und tatsächlich regennassen Haaren hinter dem Wasserfilm des Fensterglases entdeckt? „Ich kümmere mich auf gar keinen Fall um die Katze und die beschissene Wohnung“, nuschelt sie, während sie trotzig zum Fenster blickt. „Und auch die Klamotten, die Papiere, die Miete, soll das doch machen, wer will. Ich pack da gar nichts mehr an. Da kann mich keiner zu zwingen.“

      Mit unsicheren Händen umgreift sie die Rotweinflasche, schüttet das Glas voll und trinkt in hastigen Zügen. „Was ist nur passiert, mein Junge?“ klagt Marita Dobermann leise, während sie unverwandt zum Fenster blickt. „Habe ich einen großen Fehler gemacht? Bin ich schuld? Ja, ich habe wirklich zu viel getrunken.“ Sie zieht noch nicht einmal die Vorhänge zu, obwohl Besenbinders Augen kalt, gebrochen – eben wie die eines wirklich Toten glotzen.

      „Komm, lass gut sein, Giftzwerg!“ Marita Dobermann versucht vom Sofa aufzustehen, schwankt, lässt sich zurückfallen. Die Erinnerung treibt keinen Ekel vor sich her, stattdessen eine Art klinisch distanzierte Verständnislosigkeit: Der fischig unsaubere Schwanz, der glitschig unappetitliche Körper mit einzelnen schwarzen Affenhaaren, abstoßenden Körperausdünstungen, die unmissverständlich signalisierten, dass ihre innerste Natur diese Kopulation nicht eingeplant, geschweige denn gewünscht oder gefordert hatte. Die kralligen Nägel, die sich schmerzhaft in ihre Haut bohrten, der gallige Atem, der stoßweise aus seinem Inneren fuhr, dieses lächerliche Zoogeschrei, als er sich klebrig in ihr entlud. Sie hatte die unendlich langen Minuten auf seine hässlichen, spitzen Zähne starren müssen, die er auf absurd scheußliche Art bleckte, als sei er in ihrem Schoß wie in einer Folterkammer gefangen.

      Gott sei Dank wollte er nicht küssen. Und dieser ganze Mist ohne Kondom! Und die Pille war nicht ihr Ding. Sie hatte diesen, sie nannte es „Vorgang“, wie ein Paket fest verschnürt, in den hintersten Winkel ihrer Seelenkatakomben gequetscht – und mit keiner Menschenseele, mit keiner – auch nicht mit ihrer eigenen – hatte sie in all der Zeit über den „Vorgang“ gesprochen. Eigentlich war gar nichts passiert. Eine Dummheit. Schwamm drüber. In ihrem Sommersprossengesicht spreizen sich blutrote Drachenkopf-Muster. Ihre Kellerleiche, von Sauerstoffmolekülen gedrängt, beginnt launisch gärend zu stinken. War damals vor 28 Jahren – so – ihr Sohn gezeugt worden? Sie war gerade frisch verheiratet gewesen – Augen zu und durch war die Parole. Besenbinder ging ihr all die Jahre danach aus dem Weg. Und zwischen Marita Dobermann und Besenbinders Frau galt ein unausgesprochenes Schweigegebot in dieser Angelegenheit. Besenbinder hatte sie damals – ein einziges Mal auf Geschäftsreise mitgenommen. Sie sollte ein neuerworbenes Ferienhaus grundreinigen, während er im nahen Paris Geschäfte zu erledigen hatte. Grundreinigung in Frankreich – was für ein selten dämlicher Vorwand. Ihr frisch angetrauter Mann schwieg zu diesem Arbeitsausflug, zog ein mürrisches Gesicht, studierte die Kontoauszüge mit hohen Minuszahlen und köpfte eine weitere Bierflasche. Aber Marita Dobermann träumt von einem hübschen kleinen Ferienhaus mit fröhlichen Übergardinen und Korbstühlen auf der Terrasse, vielleicht sogar einem Swimmingpool. Sie würde resedafarbene Kacheln reinigen und bestimmt in ein tolles Restaurant eingeladen werden, mit „Chez ...“ und sowas – Garcons mit stattlich blütenweißen Servietten, die straff an schwarz ausstaffierten Unterarmen haken – vielleicht einen Hauch Montmartre erschnuppern. Sie erreichen die von Besenbinder neu erworbene Ferm de Plenoche über einen holprigen Feldweg. Das Landgut: grausteinerne Gebäude mit Schindeldächern – von Trutzmauern eingefasst – errichtet auf Ufersäumen ertragreicher Äcker zu Sümpfen schwarzer Mistelwälder. Nur je in westliche und östliche Himmelsrichtung wird das grobsteinerne Mauerwerk von eisernen Toren geschartet, deren Doppelflügel mit geschmiedeten Dornen gespickt sind. Einzig das kleine Chateau de Plenoche aus den Zeiten Ludwig XVI. und sein Park mit Blauzedern, Säuleneiben, unfrisiertem Buchsbaum, Rundtürmen im Mauerwerk, grenzt an die Nordseite der Ferm, teilt einsam abwehrende Lage. Der ehemalige Besitzer von Ferm und Chateau, Chevalier de Plenoche, ein alter wunderlicher Junggeselle, letzter eindeutiger Nachfahre des mit ihm aussterbenden, einst üppigen Geschlechts – die berüchtigten Amouren seines Vorfahren mit der Herzogin von Orleans, einer Cousine Ludwig XIV., und anderen Damen der Gesellschaft lieferte in glorreichen Zeiten deftiges Futter für Ranküne und Literatur – eben dieser Nachfahre hatte vor kurzem das Landgut – widerwillig der Not gehorchend – dem Deutschen verkauft, hasserfüllt und voller Verachtung in Gemüt und Gesten dem Käufer gegenüber. Auch das Schlösschen war mittlerweile vom wohlhabenden Advokat Petáin aus Paris als Landsitz erworben worden. Der alte Plenoche besitzt nur noch lebenslanges Wohnrecht in zwei Dienstbotenkammern der Mansarde. Nach Ankunft der Deutschen verbringt der alte Plenoche seine Zeit damit, die verhassten Okkupanten aus seinem Mansardenfenster heraus mit dem Feldstecher zu verfolgen und seinen Hass mit den Früchten der Belauerung zu füttern. Am Abend – nach etlichen Gläsern zu viel – schreit er aus seinem Dienstbotenzimmer triumphierend in Richtung Ferm: „Straßburg ist unser – für immer!“ Der alte Mann beugt sich gefährlich weit aus dem Fenster. „Ich hab euch armseligen Hungerleidern 1945 in Landau den Marsch geblasen!“ Plenoche schwankt ins Zimmer zurück, torkelt nach wenigen Minuten wieder ans Fenster – johlt, jetzt auf Deutsch: „Herrenmenschen, Herrenmenschen!“, verschwindet blechern lachend in der Wohnung, taucht wiederum am Fenster auf, kreischt auf Französisch: „Rasier die Schlampe!“ Und mit sich überschlagender Stimme wiederum auf Deutsch: „Herrenmenschen, Herrenmenschen!“ und in feinem aber schrill toniertem Aristokratenfranzösich: „Meine tapfere Vorhut, meine kleinen marokkanischen Mohren, die habens euch gegeben! Ha, meine Sektion!“ Unter hysterischen Lachsalven wankt er ins Zimmer.

      Am nächsten Tag lässt er sich vom Ehepaar Brederen, Hofpächterfamilie in der fünften Generation, die durch die Hintertüre ihres Pächterhauses direkt in den Park des Chateaus gelangen, alle Einzelheiten über die widerlichen Boches zutragen. Madame und Monsieur Brederen – er im Blaumann, sie im geblümten Kittel – empfangen die Deutschen recht zahnlos lächelnd. Am Resopaltisch der Pächterküche trinken Besenbinder und Dobermann Kaffee, essen Karamellpudding, der so süß ist, dass Marita Dobermann befürchtet, ihre Zähne gleich ihren Gastgebern zu verlieren, umgehend, an Ort und Stelle. Dann schließt Madame Brederen die Türe eines ehemaligen Landarbeiterhäuschens auf. Marita Dobermann erinnert sich präzise, als blicke sie auf eine gestochen scharfe Schwarz-Weiß-Fotografie: ein französisches Riesenbett mit nagelneuer Luxusmatratze bildet die feudale Insel inmitten der Schäbigkeit karger Landarbeitermöbel aus dem Fundus des frühen 20. Jahrhunderts. Ein seit langen Jahren unbenutzter offener Kamin, ein

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