DIE NOVIZEN. Michael Stuhr

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DIE NOVIZEN - Michael Stuhr

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und Lemgo

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       PROLOG

      Behaupten Sie nie, wenn jemand tot sei, dann sei alles vorbei!

      Ach, Sie glauben nicht an Geister? Sie hatten nie eine Erscheinung, eine Vision, einen Wahrtraum? Das ist gut! Dann haben Sie ja auch keine Probleme mit bösen Orten, an denen Sie weit müheloser als anderswo in die Tiefen Ihrer Seele schauen könnten. Das ist sehr gut! - Denn die Wünsche, die Sie dort entdecken würden, lassen sich ja meistens doch nicht verwirklichen. Da braucht es schon ganz besondere Umstände. - Einen besonderen Ort zum Beispiel, der bis zum Bersten mit einer Energie aufgeladen ist, die Sie nach und nach völlig unter ihren Einfluss zwingt.

      Wir alle hinterlassen Spuren in unserem Leben, die noch lange von unserer Anwesenheit künden, wenn unsere Lebensflamme längst erloschen ist: Fotos zeigen Kinder, die es einst gegeben hat, die zu Greisen geworden sind und die man schon lange begraben hat. Briefe berichten von Gefühlen zwischen Menschen, die es schon lange nicht mehr gibt. Manchmal sterben die Menschen früher und manchmal die Gefühle - aber eines stirbt nie. - Die Energie, mit der sie sich liebten oder hassten. Sie mag sich abschwächen, so wie das Bett die Wärme des Schläfers langsam verliert, wenn er fort ist, aber ein ganzes Leben voller Liebe, Hass oder Verzweiflung kann einem Ort einen unverwechselbaren Stempel aufdrücken. Wenn dann eine arme, verirrte Seele, die ihre Bestimmung noch nicht gefunden hat, in diese Aura gerät, mag es geschehen, dass sie sich von der Ausstrahlung des Ortes gänzlich überwältigen lässt. Heilige werden so geboren und Massenmörder, wahrhaft unsterbliche Liebe und unerklärliche Abneigung - und es gibt Orte, an denen regiert ganz einfach der Hass.

      Aber das betrifft Sie ja alles nicht. Sie glauben ja nicht an Geister oder an böse Orte. Wirklich schön für Sie! Egal, ob Sie die Zeichen wirklich nicht sehen können, oder ob Sie die Augen verschließen und sich die Ohren verstopfen - es wird zu Ihrem Vorteil sein. - Denn denken Sie immer daran, dass der Rattenfänger einen bunten Rock trägt und eine lustige Melodie auf der Flöte spielt. Er lockt mit schönen Dingen. Nicht alle müssen ihm folgen, das ist wahr. - Wer ihn nicht sieht, und wer die Musik nicht hören kann, der ist - vielleicht - sicher.

       KAPITEL 1 – 1958 - DER JÄGER

      Der silbergraue Borgward kündigte sich schon aus weitem Abstand mit immer wieder aufgeblendeten Scheinwerfern an. Der Mann schaute in den Rückspiegel seines brandneuen 220er Mercedes und zog verächtlich die Mundwinkel nach unten. Sein Wagen war gerade eingefahren und zu anderen Zeiten wäre er gern bereit gewesen, es diesem Angeber mal so richtig zu zeigen, aber jetzt hatte er etwas anderes vor.

      Immer schneller kam der Borgward heran, immer hektischer wurde das Geblinke. Der Mann sah nach vorne, wo ein Fiat Neckar sich abmühte, an einem Volkswagen vorbeizukommen, aber der VW-Fahrer hatte den Überholversuch rechtzeitig bemerkt und natürlich Vollgas gegeben.

      Der Borgward flog förmlich an dem 220er vorbei, und obwohl er so stark abgebremst wurde, dass er ein wenig ins Schlingern geriet, hätte er den Fiat fast gerammt. Der Mann sah noch, wie der Fahrer ungeduldig auf das Lenkrad trommelte, dann verlor er das Interesse an der Szene. Ein Blick in den Rückspiegel verriet ihm, dass sich kein weiterer Wagen näherte. Nur das breite Doppelband der Autobahn zog sich in der Abenddämmerung durch das Tal, und auch auf der Gegenspur mühte sich in einiger Entfernung lediglich ein alter Krupp-Vorkriegs-LKW, tiefschwarze Rußwolken ausstoßend, im Schritttempo die sanfte Steigung hinauf.

      Ständig nach allen Seiten sichernd fuhr der Mann auf die linke Spur und wurde langsamer. Dann schlug er die Räder scharf ein und wendete über den Mittelstreifen. Der schwere Wagen rutschte mit den Vorderrädern ein Stück weit durch das hohe Gras, dann fanden die Reifen wieder Halt. Obwohl der Mann nur vorsichtig beschleunigte, rissen die Hinterräder doch eine breite Furche in die weiche Erde. Grashalme und erdbehaftete Wurzelfetzen wurden hochgeschleudert, dann war es geschafft. Fast brutal trat der Mann das Gaspedal durch und der Wagen schoss mit wimmernden Reifen in der Gegenrichtung davon. Der Mann fühlte so etwas wie Jagdfieber in sich aufsteigen - denn auf der Raststätte, an der er eben vorbeigekommen war, wartete sein erstes Stück Wild auf ihn.

      Fast wäre sein erstes Opfer ihm doch noch entgangen. Regelrecht entsetzt hatte der Mann feststellen müssen, dass neben dem Mädchen, das er im Vorbeifahren erspäht hatte, ein riesiger Büssing-Lastwagen mit laufendem Motor stand. Aufgeregt parkte er den 220er so, dass er von einem Gebüsch halb verdeckt wurde. Nervös beobachtete er die Szene.

      Das Mädchen stand neben der geöffneten Fahrertür und unterhielt sich mit dem Fahrer, einem älteren Mann mit hüftlanger Lederjacke und Schirmmütze. Wenn das Mädchen dort einsteigen sollte, nahm der Mann sich vor, würde er den Lastwagen unauffällig verfolgen und auf eine zweite Chance warten. Die Kleine sah einfach zu verdammt süß aus, in ihrem weißen Faltenrock mit großen schwarzen Blumen, zu dem sie ein schwarzes Bolerojäckchen über weißer Bluse trug. Etwa siebzehn Jahre mochte das Mädchen alt sein, schätzte der Mann. Etwas unsicher stand es in seinen cremefarbenen Pumps vor dem Fernfahrer und schwenkte bei jedem Satz, den es sprach eine kleine schwarze Handtasche hin und her.

      "Fast eine richtige kleine Dame" murmelte der Mann seinem Spiegelbild in der Seitenscheibe zu. Besonders apart fand er die ebenfalls etwas unpassenden weißen Söckchen, aber für Nylonstrümpfe hatte es wohl genauso wenig gereicht wie für einen Mantel.

      Schließlich schüttelte das Mädchen heftig den Kopf und wandte sich von dem Fernfahrer ab. Der blickte der Kleinen achselzuckend kurz nach, kletterte schließlich in seinen Wagen und fuhr davon.

      Hastig schaute der Mann sich um, aber der große Parkplatz lag wie ausgestorben da, also ließ er den Wagen hinter dem Busch hervorrollen und hielt auf die Ausfahrt der Raststätte zu. Er bemerkte, dass die Innenflächen seiner Hände feucht wurden. Jetzt würde es sich zeigen, ob er den Plan, den er schon so lange mit sich herumtrug, heute verwirklichen konnte.

      Leise glitt der große Wagen auf das Mädchen zu, das neben einer Telefonzelle stand und die Fernverkehrskarte studierte, die dort hinter Glas aushing. Nervös stellte der Mann fest, dass der Mercedes-Motor so leise lief, dass die Kleine ihn wahrscheinlich erst hören würde, wenn er an ihr vorbei war, und dann wäre es zu spät.

      Entschlossen gab der Mann Vollgas. Der Motor wurde lauter und der sanfte Schub drückte ihn in das Polster der Rücklehne. Unbewusst krallten seine Hände sich um das elfenbeinfarbene Lenkrad, denn in wenigen Sekunden würde er hinter dem Mädchen vorbei auf die Autobahn fahren, und wenn es bis dahin nicht versuchte, ihn anzuhalten ...

      Plötzlich drehte das Mädchen den Kopf, sah den Wagen herankommen, wirbelte herum und streckte mit einer kindlich - korrekten Geste die Hand aus, den Daumen fein säuberlich nach oben gereckt.

      Eilig trat der Mann auf die Bremse und kam direkt neben der Telefonzelle zum Stehen. Sich zur Ruhe zwingend beugte er sich mit gemächlichen Bewegungen über die Sitzbank und ließ die Beifahrertür aufschwingen.

      "Fahren Sie in Richtung Hannover? Darf ich ein Stück weit mitfahren?" Das Mädchen war mit schnellen Schritten herangekommen und beugte sich nun ein wenig linkisch zu dem Fahrer hinab, der sich zwang, ihr gerade in die Augen zu sehen. Dennoch hatte er bemerkt, dass die Kleine unter ihrer Bluse keinen BH, sondern bloß ein Feinripphemdchen mit dünnem Baumwoll-Spitzenbesatz trug.

      "Komm rein." Der Mann machte eine einladende Handbewegung.

      "Danke!" das Mädchen schwang sich auf

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