DIE NOVIZEN. Michael Stuhr
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"Prima!", freute das Mädchen sich. "Dann komme ich ja heute Abend noch an."
Schweigend konzentrierte der Mann sich auf den Rückspiegel und beschleunigte.
Ein 180er Mercedes raste mit Höchstgeschwindigkeit hupend auf der linken Spur vorbei, als der 220er auf die Autobahn fuhr.
"Du bist ja wohl nicht von zu Hause fortgelaufen?", wollte der Mann jetzt wissen. "Wie heißt du denn?"
"Immer dieselben Fragen!" Die Stimme des Mädchens hatte einen patzigen Unterton.
"Nun sag schon", forderte der Mann. "Ich will keine Schwierigkeiten bekommen, nur weil du vielleicht irgendwo ausgerissen bist."
"Ich heiße Irmi Weber. Meine Mutter ist im Krankenhaus und ich soll für ein paar Tage bei meiner Oma in Hannover wohnen!", leierte das Mädchen unwillig herunter. "Sind Sie jetzt zufrieden?"
"Und da schickt deine Mutter dich so einfach ohne Fahrgeld los?" Der Mann schüttelte verständnislos den Kopf, während er lässig auf die linke Spur wechselte, um eine Isetta zu überholen.
"Ich habe zwanzig Mark!", verkündete das Mädchen stolz. "Aber die spar ich!", setzte es entschlossen hinzu. "Das reicht fast für so ein kleines Transistorradio. Das hol ich mir, wenn ich wieder in der Stadt bin."
"Entschuldigung", begann das Mädchen wieder nach ein paar Augenblicken schweigsamer Fahrt, "stört es Sie wohl, wenn ich das Radio anmache? Im AFN läuft nämlich gerade die amerikanische Hitparade, wissen Sie?"
"Mach nur", forderte der Mann sie auf. Er hatte noch nicht ausgesprochen, da hatte sie das Radio schon eingeschaltet und brachte mit dem Stationsknopf den Zeiger auf der Skala in die Nähe der richtigen Frequenz. Es dauerte einen Moment, bis die Röhren im Gerät sich aufgeheizt hatten, dann schlug dem Mann mit fast schmerzhafter Wucht der Rhythmus eines Elvis Presley-Songs aus dem Lautsprecher in der Mitte des Armaturenbretts entgegen. Schnell griff er zu und regelte die Lautstärke auf ein für ihn erträgliches Maß herab. "Tanzt du gern, Irmi?", fragte er das Mädchen, das im Takt der Musik auf der Sitzbank herumruckelte.
"Natürlich! Alle tanzen gern!"
"Was war eigentlich eben mit dem Fernfahrer?", brüllte der Mann jetzt gegen die Musik an "Ich hab euch zufällig gesehen. - Fuhr der nicht in deine Richtung?".
"Ach der!" Das Mädchen verdrehte mit einer komischen Grimasse die Augen "Der ist mir ganz schön auf die Nerven gegangen. Er hätte auch eine Tochter in meinem Alter, sagt er, aber dass die per Anhalter fährt, das käme gar nicht in Frage, und so weiter. - Das wäre viel zu gefährlich. - und ich sollte mitkommen, zu ihm nach Hause, also zu ihm und seiner Frau und dort übernachten. - Aber das wollte ich nicht. - In Amerika fahren alle per Anhalter, und keinem passiert dabei was!"
"Es wird bald dunkel", stellte der Mann fest, "und der Weg nach Hannover ist noch weit. Hast du denn wirklich kein bisschen Angst?"
"Na ja", begann das Mädchen nachdenklich. "Eigentlich nicht. - Aber wenn es wirklich dunkel wird und ich allein draußen an der Straße stehen muss ... - Aber jetzt bin ich ja bei Ihnen", fuhr es in erleichtertem Tonfall fort. "Sie fahren doch bis Hannover, oder?".
"Natürlich, Irmi", bestätigte der Mann "Mach dir keine Sorgen. Bei mir bist du sicher."
"Ich meine ja nur, weil es bald dunkel wird. - Sonst hab ich keine Angst." Irmi sah den Mann aufmerksam an, und als er ihr nicht widersprach, lehnte sie sich behaglich in das weiche Polster der Sitzbank zurück.
Der Mann lächelte und nickte zufrieden mit dem Kopf "So ist's recht", sagte er. "Mach's dir nur bequem - wir sind noch lange unterwegs." Dann streckte er seinen rechten Arm über die Lehne und fuhr mit der Hand suchend über den Rücksitz. "Keine Sorge", beruhigte er lächelnd das Mädchen, das sich steif aufgerichtet hatte und seine Bewegungen aufmerksam verfolgte. "Ich hab da noch was Schönes für uns.". Endlich hatte er die angebrochene Pralinenpackung gefunden. "Du magst doch auch etwas Süßes, oder?"
Knapp eine Viertelstunde später war das Mädchen betäubt in sich zusammengesunken. Der Mann hielt kurz an und holte ein Kissen aus dem Kofferraum, das er so unter ihren Kopf schob, dass man es von außen bemerken musste. Wer immer den weinroten Mercedes mit seinen Insassen sah, würde vermuten, dass hier ein Vater mit seiner Tochter oder ein Onkel mit seiner Nichte unterwegs war, und sollte das Mädchen vorzeitig erwachen, würde es sich sogar über die Fürsorge freuen.
Der Mann ließ den Motor wieder an, beschleunigte zügig und wenig später schnurrte der Wagen mit über 140 km/h über die Autobahn. Der Mann hatte es eilig, denn die Betäubung hielt wahrscheinlich nur drei bis vier Stunden an, und es war noch ein weiter Weg bis nach Hause.
Der AFN-Sprecher kündigte ein Lied von einem gewissen Buddy Holly an. Angewidert schaltete der Mann das Radio aus. - Er hasste diese Art von Musik. Dann waren für lange Zeit nur noch das Summen des starken Sechszylinders und die Windgeräusche zu hören. Der Mann hing seinen Gedanken nach. Ab und zu warf er einen aufmerksamen, lauernden Blick auf das Mädchen, aber noch wagte er nicht, es zu berühren. Es begann zu regnen. Als der Mann die Scheibenwischer anstellte, hustete das Mädchen kurz im Schlaf.
KAPITEL 2 - Juni 1994 - SANDER
Julias alter Fiesta hatte seine Mucken. Wenn man bei mehr als viertausend Touren das Gaspedal ganz durchdrückte, verschluckte er sich, und es war, als würde der Wagen von einem starken Gummiband fest gehalten. - Gunther hatte soeben das Gaspedal bei Tempo Hundert ganz durchgedrückt und sofort war der Wagen ruckelnd immer langsamer geworden. Der Tacho stand jetzt schon auf Achtzig und die Nadel fiel immer noch weiter.
"Gas wegnehmen, dann wird er schneller", riet Julia vom Beifahrersitz und sah Gunther nervös an. Die beiden hatten trotz des schönen Wetters mit Absicht darauf verzichtet, für diese Fahrt Gunthers BMW zu nehmen. "Wenn wir da mit einem teuren Wagen auflaufen, meint der Typ doch gleich, dass er ruhig noch was auf die Pacht draufschlagen kann", hatte Gunther, wohl nicht ganz zu unrecht, gemeint.
Gunther nahm das Gas etwas zurück und der Wagen beschleunigte wieder. "Das erinnert mich an gewisse Computerprogramme", grinste er zu Julia hinüber. "Zum Beenden auf `'Start' drücken."
Julia lachte unsicher auf. Sie liebte ihren Muckel, wie sie den Wagen nannte, und Gunthers Spott traf sie fast persönlich. Er meinte es ja nicht böse, aber er konnte eben nur mit neuen Sachen richtig gut umgehen, und hatte für ihr 'so genanntes Auto', wie er Muckel bezeichnete, vom ersten Tag an nur sanfte Verachtung übrig gehabt.
Muckel war Julias erster Wagen, den sie sich sofort nach Beendigung ihres Studiums gekauft hatte, und auch da war er schon nicht mehr ganz neu gewesen. Jetzt war er fünfzehn Jahre alt, und die letzte TÜV-Abnahme hatte er nur dem Umstand zu verdanken, dass Julia ihr knappstes T-Shirt angezogen und einen intensiven Flirt mit dem Prüfbeamten angefangen hatte. Von den Rostlöchern und den halbblinden Scheinwerfern abgesehen, waren auch die Fensterheber schwergängig, das Schiebedach klemmte, und die Scheibenwischer konnte man nur mit einem Trick in Gang setzen. Muckel hatte eine schwache Lichtmaschine, brauchte ein bestimmtes Ritual beim Anlassen, und manchmal sprang er überhaupt nicht an. Man musste es dann einfach nach zwanzig Minuten wieder versuchen - dann ging es garantiert.
"Blöde Kiste", murmelte Gunther und trommelte mit den Fingern nervös auf das Lenkrad. Er fuhr jetzt hinter einem LKW und traute sich nicht, ihn zu überholen. - Muss man ja auch nicht, fand Julia. Man kann ja genauso gut dahinter