Wie im Paradies. Klaus Melcher
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Schon am Abend, als sie noch im Lesezimmer beisammen saßen, vertraute Preuss ihm an, das machte er immer so, das wäre so eine Art tägliches Training, bei dem er seine Reaktionsgeschwindigkeit übte. Es wäre äußerst wichtig für ihn, um im Kopf fit zu bleiben. Seine größte Sorge wäre, irgendwann abzustumpfen und nur vor sich hin zu dämmern, eine leblose Puppe.
Nur beim Nachmittagskaffee hätte er die Möglichkeit zum Training.
Beim Frühstück und Abendessen bediente man sich am Buffet und mittags würde ein Tellergericht serviert. Hier wäre jede Konkurrenz ausgeschaltet. Wenn man mehr haben wollte, bediente man sich selbst oder bäte um einen Nachschlag.
Nur beim Kuchen gäbe es einen Wettkampf.
Die Kuchenstücke unterschieden sich nur geringfügig voneinander, wären mal so, mal so geschnitten, und deshalb gehörte sehr genaue Beobachtungsgabe dazu, das größte Stück unter den nahezu gleichen herauszufinden. Auch müsste man blitzschnell überschlagen können, ob das etwas dickere, aber schmalere Stück wirklich mehr wäre als das großflächige dünne.
Fromm muss wohl recht abwesend ausgesehen haben, denn plötzlich fragte Preuss: „Interessiert Sie überhaupt, was ich Ihnen erzähle?“
Mit einem Ruck fuhr er zusammen, so als würde er aus einem Sekundenschlaf geweckt.
„Doch, doch!“, beeilte er sich zu versichern.
Er ahnte ja nicht, wie sehr Fromm ihn beneidete. Er hatte einen Sinn in seinem Leben gefunden.
4. Das Chamäleon
Er wusste, es würde wiederkommen, dieses Gefühl des Abgeschobenseins, des Überflüssigen, des Wertlosen. Fast wie Müll kam er sich auf einmal vor, als er in seinem Zimmer war und sich bettfertig machte.
Zwar schaffte er das alles allein, brauchte keine Hilfe, weder beim Ausziehen noch bei den anderen Verrichtungen, aber plötzlich stand das alles wie ein Berg vor ihm.
Hier brauchte er sich keine Sorgen zu machen, ein kurzes Ziehen an einer der vielen Strippen reichte, und eine Schwester oder ein Pfleger würde sofort kommen und ihm helfen. Aber er wollte keine Hilfe!
Sein Sohn hätte darauf sehr großen Wert gelegt, antwortete das graue Kostüm, als Fromm nachfragte, warum sein Sohn dieses Haus gewählt hätte.
„Hat er es Ihnen nicht gesagt?“, fragte sie erstaunt, „fast alle Angehörigen wählen unser Haus wegen der vorbildlichen Betreuung. Wir sind mehrfach zertifiziert.“
Ob er – etwa – etwas auszusetzen hätte, fügte sie hinzu, und ihre Stimme klang leicht feindselig.
Wenn Fromm ehrlich war, er hätte in seiner Wohnung nicht mehr bleiben können. Zwar hätte er sich das Leben erleichtern können, hätte eine Schwester von einem sozialen Dienst kommen lassen können, die nach ihm sah, ihn mit dem Nötigsten versorgte, könnte sich das Essen kommen lassen, könnte einen Schüler damit beauftragen, für ihn einzukaufen, wenn er die wenigen Schritte nicht mehr selbst laufen konnte. Er könnte sich auch einen Pieper um den Hals hängen, mit dem er jederzeit den Notdienst erreichen würde.
Aber war er damit nicht noch abhängiger?
Er lag auf dem Bett, halb ausgezogen, zu mehr hatte die Kraft plötzlich nicht gereicht. Er hätte die Strippe ausprobieren können, die auch an der Wand seines Bettes herunterhing, doch er tat es nicht.
Warum sollte er läuten?
Um sich und dem Personal zu zeigen: Da ist wieder ein Gebrechlicher, der Hilfe braucht?
Das wenigstens wollte er sich noch möglichst lange bewahren, das Gefühl, sich noch selbst steuern zu können.
Zwar konnte er sich nicht an seinen Aufenthalt im Krankenhaus erinnern, doch dass er total auf fremde Hilfe angewiesen war, das war ihm schon klar. Und dieses Bewusstsein war fürchterlich.
Gustav Preuss hatte es geschafft.
Zwar konnte auch er nicht mehr alles leisten, was er wollte, war auch er auf Hilfe angewiesen, vielleicht nicht so sehr wie Fromm oder andere es waren, aber er hatte eine Möglichkeit gefunden, sich über die anderen zu erheben, ihnen zu zeigen, ich bin nicht auf euch angewiesen, ich packe euch!
Dieser simple Kuchentrick, an jedem Nachmittag exakt um 15.33 Uhr vorgeführt, hatte ihn aus seiner Abhängigkeit befreit. Nicht nur, dass er das größte Kuchenstück ergatterte!
Das war nicht der Hauptgrund, auch dass er sein Reaktionsvermögen schulte, sicher nicht, selbst wenn er es behauptete.
Nein, er triumphierte über all die anderen, wenn seine Hand vorschoss und ein bestimmtes Stück Kuchen griff und auf seinen Teller legte.
Dann wusste jeder: Ihm war keiner gewachsen.
Später gewann Fromm allerdings den Eindruck, die Küche gab auf ihren Teller immer ein etwas größeres Kuchenstück, nur um seine Reaktion zu testen oder zu schulen.
Aber das konnte natürlich Einbildung sein, vielleicht auch ein wenig Neid, weil Preuss bevorzugt wurde.
Einmal nur hatte er sich verschätzt und ein falsches Stück gegriffen.
Seine Hand schnellte nicht langsamer vor als gewöhnlich, griff zielsicher wie immer das angepeilte Kuchenstück, ähnlich einem Chamäleon, das mit seiner klebrigen Zunge seine Beute fängt, aber es war ein dünneres Stück als all die anderen. Irgendjemand hatte es manipuliert, und dafür kam eigentlich nur jemand in der Küche in Frage.
Unter dem Kuchen lag, exakt in seiner Größe, ein Stück Karton, vielleicht nur fünf Millimeter stark. Aber das reichte.
Preuss brauchte Wochen, um die Schmach zu verwinden, erst nur die Ungewissheit, wer ihm diesen teuflischen Streich gespielt hatte, dann die vor Schadenfreude blitzenden Augen vieler seiner Mitbewohner, das leise Getuschel, wenn er die Platte fixierte, und schließlich der Applaus, der in der ersten Zeit losbrandete, wenn er seinen Kuchen gegriffen hatte.
Inzwischen haben sich alle beruhigt.
Darauf, den Betrüger zu ermitteln, verzichtete man. Es war niemand ernsthaft geschädigt, und selbst Preuss bestand nach längerem Überlegen nicht darauf, auch nicht darauf, dass sich der Schuldige bei ihm entschuldigte.
Trotzdem blieb ein leichter Schatten zurück.
Zwar spielte Preuss sein Spiel nach wie vor, doch mit weniger Freude. Es fehlte das Blitzen in seinen Augen, und manchem schien sogar, dass er seine Hand nur mit einiger Verzögerung vorschnellen ließ, als misstraute er seinem ersten Eindruck.
Es gab Tage, an denen ließ er sich zur Kaffeezeit gar nicht im Speisesaal blicken.
Als der Platz neben seinem das erste Mal nicht besetzt war, dachte Fromm sich nichts dabei. Warum sollte Preuss nicht auch mal fehlen? Vielleicht war er vom Mittagessen noch zu satt, obgleich er heute nicht besonders viel gegessen hatte. Oder er hatte einfach verschlafen.
Fromm wusste ja nicht, dass er in den annähernd drei Jahren, die Preuss schon hier war, noch nicht einmal die Kaffeetafel versäumt hatte.
Als